Sie rauchte ihre Zigarette zu Ende, startete den Motor und fuhr langsam weiter.
Die Gestalt bewegte sich wie ein lautloser Schatten durch den Gang; ein großer, dunkler Umriß von nicht genau zu erkennenden Konturen, dessen Schritte auf dem polierten Boden nicht das leiseste Geräusch zu verursachen schienen. Manchmal warfen die an den Wänden befestigten Spiegel sein Bild zurück, aber auch dieser Reflex wirkte irgendwie verzerrt, entstellt, so, als wären selbst die unbestechlichen Spiegel nicht in der Lage, das wahre Aussehen der Erscheinung zu erfassen.
Conelly blieb stehen und versuchte, das seltsame Gefühl, das von ihm Besitz ergriffen hatte, näher zu ergründen. Die endlosen labyrinthisch verzweigten Gänge und Räume, durch die er während der vergangenen Minuten gegangen war, beunruhigten ihn. Er spürte die ungeheure Macht, die diesen Spiegeln innewohnte, aber zum erstenmal fühlte er auch, wie fremdartig diese Macht war, völlig anders als seine eigene oder die anderer paranormal begabter Menschen, so fremd, daß unmöglich Ulthar allein sie geschaffen haben konnte. Zum erstenmal fragte sich Conelly, mit welchen Kräften sich der Magier möglicherweise eingelassen hatte.
Der Gedanke verstärkte seine Beunruhigung noch. Er trat dicht an einen der deckenhohen Spiegel heran, streckte die Hand aus und berührte ihn leicht mit den Fingerspitzen. Das Kristallglas fühlte sich unnatürlich kalt an, fast eisig, obwohl es im Inneren des Labyrinths eher warm war. Conelly starrte einen Moment lang sein eigenes Spiegelbild an, und ein seltsames, nie gekanntes Gefühl, das fast so etwas wie Angst zu sein schien, stieg in ihm empor. Er versuchte, mit seinen Para-Sinnen hinter den Spiegel zu schauen, das Geheimnis, das in der kalt glänzenden Glasplatte verborgen war, zu ergründen, aber er schaffte es nicht. Seine tastenden Gedankenfühler schienen auf ein unsichtbares Hindernis zu stoßen. Zorn wallte in Conelly auf. Er konzentrierte sich und versuchte noch einmal, die unbegreifliche Barriere zu durchbrechen, aber wieder war da diese Mauer, die seinen Vorstoß bremste und seine Kraft zurückwarf. Es war kein Widerstand, wie er ihn kannte, keine Mauer, die er greifen und zerbrechen konnte. Diese fremde, seltsame Kraft schien seine wütenden Vorstöße genauso mühelos zurückzuwerfen, wie der Spiegel einen Lichtstrahl reflektierte.
Wütend trat Conelly noch näher an den Spiegel heran und schlug mit der Faust dagegen. Es gab einen peitschenden, schmerzhaften Ton, der die Wände des Ganges zum Bersten zu bringen schien. Das Glas vibrierte unter der Wucht des Schlages, aber es zerbrach nicht. Conelly starrte den Spiegel noch einige Sekunden lang wütend an, dann drehte er sich abrupt um und stürmte den Gang hinunter. Das Bewußtsein, einen schrecklichen Fehler begangen zu haben, vertiefte sich. Er hatte geglaubt, Ulthar nun endlich richtig einschätzen zu können, aber der Magier hatte seine wirkliche Macht noch nicht einmal gezeigt.
»Halt dich bereit, Quaraan«, flüsterte Conelly. »Du weißt, was du zu tun hast.«
»Ja, Herr«, antwortete eine unhörbare Stimme in seinem Kopf. Ein flüchtiger, verschwommener Schatten entstand hinter ihm, um gleich darauf wieder zu verschwinden. Das war Quaraans besondere Fähigkeit, die ihn für Conelly unersetzlich machte: Er war in der Lage, sich jeder Umgebung so perfekt anzupassen, daß es einer Unsichtbarkeit gleichkam. Solange er sich so nah bei ihm aufhielt, wurde auch Conelly zum Teil darin einbezogen. Im Gegensatz zu Quaraan wurde er nicht auch vollständig unsichtbar, aber er war wesentlich schwerer zu erkennen, vor allem, wenn er sich in dunklen Ecken und Nischen verbarg. Auf diese Art waren sie unbemerkt bis nach Coney Island gekommen. Hier jedoch, im Inneren des Kabinetts, wo es keinerlei Möglichkeit gab, sich zu verstecken, nutzte ihm diese Fähigkeit nicht viel. Aber er hatte ja auch nicht vor, sich selbst unbemerkt an Ulthar heranzuschleichen. Wichtig war nur, daß der Magier Quaraan nicht zu früh entdeckte.
Er öffnete eine Tür und trat in den dahinterliegenden Raum. Hinter ihm schlug die Tür krachend zu, noch bevor auch Quaraan eintreten konnte.
Ulthar schien ihn erwartet zu haben, zumindest zeigte er keinerlei Spuren von Überraschung oder Erschrecken, als Conelly so plötzlich vor ihm auftauchte.
»Du bist also zurückgekommen«, sagte er ruhig. »Das war zu erwarten, aber ich hätte nicht erwartet, daß du dich allein noch einmal hierherwagst. Es sei denn, du bist gekommen, um mich um Frieden zu bitten und dich mir zu unterwerfen.«
Conelly lachte auf. »Du bist verrückt, alter Mann. Ich soll mich dir unterwerfen? Ich bin hier, um dich zu töten.«
Noch während er sprach, zog er ein Messer aus der Tasche und sprang vor. Doch statt den Magier zu fassen zu bekommen, prallte er gegen irgend etwas Hartes und wurde zurückgeschleudert.
Ulthars dröhnendes Gelächter erfüllte die Luft. Er ging durch den Raum, lehnte sich an den Tisch und musterte Conelly aus kalten, mitleidslosen Augen. »Hast du geglaubt, ich hätte mich nicht auf deinen Besuch vorbereitet, Conelly?« fragte er fast mitleidig. »Hast du wirklich angenommen, ich wäre so dumm, mich dir schutzlos auszuliefern, nachdem ich dich bis hierher kommen gelassen habe?«
Conelly brüllte in sinnloser Wut auf, sprang vor und prallte erneut klirrend gegen ein unsichtbares Hindernis.
»Spiegel!« keuchte er. »Du bist ebenfalls nur ein ...«
»Selbst du hast es nicht gemerkt«, fiel ihm Ulthar lächelnd ins Wort. »Du bist mir in den vergangenen Tagen nicht ein einziges Mal wirklich nahe gekommen, Monstermacher.«
»Du hast alles geplant«, keuchte Conelly. »Du hast von Anfang an vorgehabt, mich in deine Gewalt zu bringen.«
»Eine direkte Konfrontation mit dir hätte mich nur von wichtigeren Dingen abgehalten. Ich hatte gehofft, dich noch ein wenig länger täuschen zu können«, gestand Ulthar. Sein Blick wurde plötzlich hart. »Aber das macht jetzt nichts mehr, Conelly. Ich habe dich da, wo ich dich haben wollte. Du sitzt in der Falle.«
Plötzlich, von einer Sekunde auf die andere, wurde es dunkel. Conelly keuchte überrascht auf, warf sich herum und prallte gegen eine kühle, glatte Wand. Zwei, drei Sekunden lang schlug er wütend gegen das unsichtbare Hindernis, bevor er einsah, daß er hier mit bloßer körperlicher Gewalt nicht weiterkam. Er trat zurück, stieß ein wütendes Knurren aus und richtete seine paranormale Kraft gegen die Barriere.
Das Ergebnis war - Chaos.
Ein greller, unerträglich heißer Blitz schien ihn einzuhüllen. Er schrie, brüllte vor nie gekanntem Schmerz und wälzte sich in Agonie auf dem Boden. Jede einzelne Nervenfaser, jede Zelle seines Körpers schien in Flammen zu stehen. Flüssige Lava kroch durch seine Adern, brachte sein Blut zum Kochen und schien seinen Körper sprengen zu wollen. Es war seine eigene Kraft, die auf ihn zurückgeworfen wurde und ihn zu vernichten drohte.
Nach einer Ewigkeit erst begann der Schmerz langsam zu verebben.
Conelly fand sich zusammengekrümmt am Boden liegend, gedemütigt wie nie zuvor. Er versuchte aufzustehen, aber der Schmerz kam wieder und zwang ihn erneut auf Hände und Knie herunter.
»Du siehst, Monstermacher, auch deinen Kräften sind Grenzen gesetzt«, vernahm er Ulthars scheinbar aus dem Nichts ertönende Stimme.
Conelly stöhnte. »Ich ... ich werde dich vernichten«, preßte er hervor. »Ich kriege dich, und dann werde ich dich töten!«
»Nichts wirst du, Conelly«, gab Ulthar ruhig zurück. »Deine Macht ist gebrochen. Du wirst nie wieder herrschen. Niemand kann meinen Spiegeln entkommen.« Er kicherte. »Das kannst du nun am eigenen Leib erfahren. Versuch ruhig, dich zu befreien. Ich habe Wichtigeres zu tun, als meine Zeit mit dir zu vergeuden. Es interessiert dich sicher, daß Vivian Taylor gerade gefangen zu mir gebracht wird.«