Ulthar erwartete seinen Angriff vollkommen ruhig. Sheldon schrie wütend auf, schwang die Fäuste und warf sich nach vorne, doch er erreichte den Magier nicht. Sein Körper stieß mitten in der Luft gegen ein unsichtbares Hindernis. Ulthars Gestalt verzerrte sich, schien sich für einen kurzen Moment zu biegen wie eine Fotografie, die in der Mitte geknickt wird.
Ein Spiegelbild! zuckte es durch Vivians Bewußtsein. Sie hatte die ganze Zeit nur Ulthars Spiegelbild gesehen!
Sheldon fiel stöhnend zu Boden und blieb mit seltsam verrenkten Gliedern liegen. Unter seinem Kopf breitete sich langsam eine dunkle, feucht schimmernde Pfütze aus.
Vivian fuhr herum. Die Tür, durch die sie hereingekommen waren, war verschwunden.
»Es ist aus, Missis Taylor!« dröhnte Ulthars Stimme in ihrem Kopf. »Sie haben verloren, warum also sträuben Sie sich noch länger gegen das Unvermeidliche? Ich habe schon zu lange auf diesen Augenblick gewartet. Meine Spiegel erwarten Sie, damit Melissa leben kann.«
»Ich werde niemals ...«
»Ihre Meinung ist völlig unerheblich«, unterbrach Ulthar sie. »Ihnen wird gar keine andere Wahl bleiben, als mir zu gehorchen. Aber vorher möchte ich noch etwas von Ihnen haben, das Melissa vielleicht von Nutzen sein wird. Ich hatte es bereits einmal, aber Sie haben es Ihrem Mann wieder abgenommen. Geben Sie mir Ihr Amulett!«
»Mein ... Amulett?« Vivian hielt es unter ihrer Jacke fest umklammert. Bereits seit sie das Kabinett betreten hatte, konzentrierte sie all ihre paranormalen Sinne darauf, lud es wie eine Batterie auf.
»Her damit!« Auffordernd streckte Ulthar die Hand aus.
»Also gut. Du hast gewonnen«, sagt Vivian schleppend, zog die Hand so heftig unter der Jacke hervor, daß die Kette zerriß, dann schmetterte sie die Faust mit dem Amulett darin mit aller Kraft gegen das Spiegelbild des Magiers.
Ulthars überlegenes Lächeln verwandelte sich in eine Grimasse des Schreckens. Der Spiegel klirrte, verwandelte sich in ein abstraktes Muster aus unzähligen Rissen und Sprüngen und zerbarst. Ein gellender, schmerzerfüllter Schrei schnitt durch die Luft. Vivian taumelte zurück, preßte ihre Hände auf die Ohren und sah sich verzweifelt nach einem Fluchtweg um. Sie spürte, wie sich das Amulett in ihrer Hand erwärmte. Eine ungeheure, pulsierende Kraft schien plötzlich von dem harmlosen Stein auszugehen.
Der Raum verschwamm. Im ersten Sekundenbruchteil glaubte Vivian, daß irgend etwas mit ihrem Sehvermögen nicht in Ordnung war, aber ein schneller Blick auf Sheldons reglosen Körper überzeugte sie davon, daß es die Kammer war, die sich veränderte, und nicht sie. Die Wände schienen sich zu krümmen, verzerrten, verbogen sich wie lebende Wesen. Gleichzeitig schienen ihre Konturen an den Ecken zu zerfasern, an Substanz und Wirklichkeit zu verlieren und zu verblassen. Für einen kurzen Moment konnte Vivian den Raum sehen, wie er wirklich war: Ein flacher, aus unbearbeiteten Brettern zusammengefügter Schuppen, durch dessen Wände Sonnenlicht in fahlen Streifen hereinsickerte. Der Boden bestand aus unbearbeitetem Lehm, und in der Ecke hockte ein wimmernder, tatteriger Greis, der sie aus schreckgeweiteten Augen anstarrte. Vivian begriff, daß sie Ulthar so sah, wie er wirklich war. Und trotz der abgrundtiefen Abscheu, die sie vor ihm empfand, stieg fast so etwas wie Mitleid in ihr auf.
Dann stabilisierten sich die Wände wieder. Der Schuppen verschwand, und Vivian starrte erneut auf die blinkende Front der Spiegel. Mit einem wütenden Aufschrei hob sie die Faust und schlug noch einmal mit aller Kraft zu.
Die Wände wichen vor ihr zurück. Plötzlich gähnte direkt vor ihr ein bodenloser Abgrund. Sie warf sich zurück, kämpfte mit wildrudernden Armen um ihr Gleichgewicht und ließ das mittlerweile glühend heiß gewordene Amulett fallen, aber es nutzte nichts. Der Boden zuckte wie ein lebendes Wesen, bäumte sich auf und brachte sie vollends aus dem Gleichgewicht.
Vivians Schrei verhallte ungehört, als sie in die Tiefe stürzte.
Mary-Lou Cramer preßte sich zitternd in den zweifelhaften Schutz eines Hauseinganges. Sie hatte Angst, panische, lähmende Angst, wie sie sie nie zuvor kennengelernt hatte. Sie hätte niemals hierher kommen dürfen, das wußte sie nun, aber die Einsicht kam zu spät. Ohne es zu wollen, war sie in etwas hineingeraten, das weit über alles hinausging, was sie erwartet hatte. Was sie hier miterlebte, war kein Spiel, sondern blutiger Ernst.
Sie hatte ihren Wagen auf einem unbefestigten Seitenweg abgestellt, nachdem sie hinter einer Kurve die Männer gesehen hatte, die die Straße sperrten und Jeremy kontrollierten, bevor sie ihn passieren ließen. Von dort aus war Mary-Lou zu Fuß weitergegangen, querfeldein bis zu dem verlassenen Freizeitpark auf Coney Island. Jeremys Wagen war irgendwo in dem unübersichtlichen Durcheinander von Häusern und Ruinen verschwunden, aber das Gelände war nicht allzu groß - früher oder später würde sie ihn finden. Die einsame, irgendwie bedrohlich wirkende Umgebung hatte ihr Angst eingeflößt, aber sie war trotzdem weitergegangen.
Dann waren die Motorräder gekommen.
Selbst jetzt verspürte Mary-Lou noch ein flaues Gefühl im Magen, als sie daran dachte, wie knapp sie der Entdeckung entgangen war. Es war eine Gruppe von vier schweren Motorrädern, die auftauchten, kaum daß der Lärm der Motorräder Mary-Lou gewarnt hatte. Buchstäblich im letzten Augenblick hatte sie sich in den Hauseingang geworfen, um nicht gesehen zu werden. Und dann ...
Obwohl sie es mit eigenen Augen gesehen hatte, weigerte sich Mary-Lou, an das Erlebte zu glauben. Männer waren aufgetaucht. Zehn, fünfzehn, vielleicht zwanzig Gestalten, die plötzlich wie aus dem Boden gewachsen auf dem Platz erschienen waren und die Motorradfahrer angegriffen hatten. Der Kampf war ebenso bizarr wie gnadenlos gewesen. Die Motorradfahrer waren in eine Falle gelaufen, aus der es für sie kein Entkommen mehr gegeben hatte. Die Angreifer hatten sich den schweren Maschinen in den Weg geworfen, ungeachtet der Gefahr, die von den heranrasenden Kolossen ausging. Übermenschlich starke Arme hatten die Männer aus den Sätteln gezerrt, ihren verzweifelten Widerstand gebrochen und sie niedergerungen. Das Ganze hatte nicht einmal eine Minute gedauert.
Mary-Lou schloß die Augen, versuchte, sich zur Ruhe zu zwingen und wünschte sich weit, weit weg. Ihr Herz hämmerte zum Zerspringen, und ihre Knie zitterten so stark, daß sie Mühe hatte, auf den Beinen zu bleiben. Sie mußte weg, egal wie.
Mary-Lou raffte all ihren Mut zusammen und spähte vorsichtig über den Platz. Der Kampf war vorüber. Die Motorradfahrer lagen regungslos an Händen und Füßen gefesselt neben ihren zerstörten Maschinen. Die Männer, die sie überwältigt hatten, schienen zur Bewußtlosigkeit erstarrt, große, lebensechte Skulpturen, in denen nicht einmal eine Spur von Leben zu sein schien, und ihre jetzige Regungslosigkeit wirkte ebenso unheimlich wie die unvorstellbare Kraft, Schnelligkeit und Rücksichtslosigkeit sich selbst gegenüber, mit der sie zuvor gekämpft hatten. Sie hatten nicht wie Menschen gekämpft, sondern wie seelenlose Maschinen, wie Roboter.
Mary-Lou schob sich vorsichtig ins Freie. Keine der unheimlichen Gestalten blickte in ihre Richtung. Mit etwas Glück konnte sie den Platz verlassen und entkommen, doch gerade als sie es wagen wollte, hörte sie plötzlich Schritte. Sie sprang in ihre Deckung zurück, kauerte sich, so gut es ging, in den Schatten des Türrahmens zusammen und sah mit klopfendem Herzen über den Platz.
Auf der anderen Seite des Platzes erschien Jeremy und trat näher.
Mary-Lou unterdrückte einen Aufschrei, als sie ihn sah. Er hatte sich noch mehr verändert. Der Ausdruck in seinem Gesicht war ... Sie suchte nach einer passenden Bezeichnung, doch sie fand keine. Jeremy wirkte auf eine unmöglich zu beschreibende Art unmenschlich, grausam. Mary-Lou hatte das irrsinnige Gefühl, in das Gesicht eines Menschen zu blicken, der von einem bösen Geist beseelt war, in dessen Seele jede Spur seiner früheren Existenz ins Gegenteil verkehrt worden war. Er ging zu der schweigenden Gruppe im Zentrum des Platzes hinüber, sah die überwältigten Männer einen Augenblick triumphierend an und machte eine befehlende Geste. »Bringt sie ins Kabinett!« ordnete er an, so laut, daß auch Mary-Lou ihn hören konnte. »Die Maschinen könnt ihr irgendwo verstecken.«