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Die unheimlichen Gestalten machten sich stumm an die Ausführung seiner Befehle. Arme von übermenschlicher Stärke rissen die Motorradfahrer auf die Füße und stießen sie grob vor sich her, dann hoben sie die zentnerschweren Motorräder hoch und trugen sie wie Spielzeuge davon. Nach wenigen Augenblicken lag der Platz einsam und verlassen da wie zuvor.

Sie stand auf, trat aus ihrem Versteck hervor und folgte Jeremy in sicherem Abstand. Sie war halb wahnsinnig vor Angst, aber sie war zugleich entschlossen, das Geheimnis, das ihren Mann umgab, zu klären. Dieser Mann dort vorne war nicht mehr Jeremy. Und sie würde herausfinden, was mit ihm geschehen war.

Die Gruppe bewegte sich auf das Zentrum von Coney Island zu. Mary-Lou wußte hinterher nicht, wie lange sie gelaufen war - es konnten nur wenige Minuten gewesen sein, aber ihr kam es so vor, als würde sie seit Stunden durch dieses Gruselkabinett irren. Überall schienen bedrohliche Schatten zu lauern, flüsternde, kichernde Stimmen, die sie aus der Dunkelheit in Ecken, Nischen und Hauseingängen heraus verspotteten, grotesk verzerrte Umrisse, die zusammengestürzten Reste der ehemaligen Gebäude, die sich in ihrer Einbildung in gierige Klauen verwandelten, die nach ihr zu greifen schienen.

Dennoch ging sie weiter. Jeremy war ein Teil ihres Lebens, und sie würde nie wieder Ruhe finden, ehe sie nicht wußte, was ihn so verändert hatte.

Die Gruppe verschwand schließlich im Inneren eines flachen, langgestreckten Gebäudes, über dessen Tür die Reste einer Neonschrift hingen. Ulthars Spiegelkabinett, las Mary-Lou. Sie spürte, daß sie der Aufklärung des Geheimnisses ganz nahe war. Es mußte irgend etwas mit Spiegeln zu tun haben. Mit dem zerbrochenen Spiegel im Schlafzimmer hatte alles angefangen, und die ganze Zeit schon suchte sie nach einer Erklärung dafür, warum Jeremy scheinbar ohne jeden ersichtlichen Grund sämtliche übrigen Spiegel aus dem Haus entfernt hatte.

Mary-Lou wartete, bis der letzte Mann der Gruppe im Inneren des Gebäudes verschwunden war, ehe sie sich langsam auf die Tür zubewegte.

In diesem Augenblick ging eine seltsame Veränderung mit dem Gebäude vor sich. Ein hoher, klagender Ton erfüllte die Luft. Die Umrisse des Hauses verschwanden, zerflossen für einen Augenblick, als wären sie hinter einem Schleier aus treibendem Wasser verschwunden. Ein unmerkliches Zittern lief durch den Boden, begleitet von einem seufzenden, schmerzerfüllten Laut, der aus keiner menschlichen Kehle stammte.

Mary-Lou rannte instinktiv los. Ohne zu überlegen, stürzte sie durch die Tür und in das Gebäude hinein. Ein kleiner, spartanisch eingerichteter Raum nahm sie auf. Sie blieb einen Augenblick lang stehen, sah sich mit klopfendem Herzen um und ging dann weiter. Unter einer Tür an der rechten Seite schimmerte Licht hindurch. Sie ging vorsichtig hinüber, schob die Tür auf und spähte durch den entstandenen Spalt in den angrenzenden Raum hinüber. Der Anblick verschlug ihr den Atem. Die Größe der Kammer war nicht zu bestimmen; sie konnte zehn Meter, aber auch fünfzig oder hundert Meter durchmessen. Die Wände waren mit unzähligen, schimmernden Spiegeln bedeckt, Spiegeln, die in allen denkbaren Winkeln und Richtungen angeordnet waren, so daß Mary-Lous Blick keinen Halt fand und hilflos von einem zum anderen glitt.

Ein leises, schmerzerfülltes Stöhnen klang auf. Sie schob die Tür weiter auf und trat mit zitternden Knien ein. Eine Welle der Bewegung schien durch den Raum zu laufen, als die Spiegel ihr Bild aus unzähligen Richtungen und Perspektiven zurückwarfen. Das Stöhnen wiederholte sich. Mary-Lou fuhr herum und zuckte unwillkürlich zusammen, als sie die Gestalt am Boden liegen sah.

Der Mann war verletzt. Sein Gesicht lag in einer Lache halb geronnenen Blutes, und seine Hände bewegten sich krampfhaft. Mary-Lou vergaß ihre Angst und eilte zu ihm hinüber. Behutsam schob sie die Hand unter seinen Kopf und drehte ihn vorsichtig herum. Warmes, klebriges Blut sickerte zwischen seinen Haaren hervor, lief über ihren Arm und tropfte auf ihr Kleid. Der Mann stöhnte lauter, als sie ihn aufrichtete.

»Was ist passiert?« fragte Mary-Lou besorgt. Der Mann öffnete die Augen, versuchte etwas zu sagen und verzog schmerzhaft das Gesicht. »Verstehen Sie mich?« erkundigte sich Mary-Lou.

Der Unbekannte antwortete mit einem kaum merklichen Nicken. »Wir müssen ... weg«, stöhnte er. »Schnell ...«

Mary-Lou zögerte nicht länger. Sie stand auf, griff unter seine Schultern und zog ihn ächzend hoch. Er war schwerer, als sie erwartet hatte, aber es ging. Sie legte seinen Arm um ihre Schultern, drehte sich mühsam um und stolperte auf den Ausgang zu, der plötzlich viel weiter als vorher entfernt zu sein schien.

Ein helles Glitzern am Boden erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie blieb stehen und sah genauer hin. Es handelte sich um eine zerrissene Damenhalskette, an der ein bläulich schimmernder Stein hing, der in einen silbernen, sternförmig gezackten Kranz eingefaßt war. - Der Mann schien den Stein ebenfalls zu bemerken. Er machte eine schwache Handbewegung in seine Richtung und murmelte etwas, das Mary-Lou nicht verstehen konnte. Aber es war eindeutig, daß er den Stein mitnehmen wollte. Sie nickte entschlossen und bückte sich. Irgendwie brachte sie das Kunststück fertig, das Medaillon vom Boden aufzuheben, ohne den Verletzten dabei loszulassen oder unter seiner Last ebenfalls zusammenzubrechen. Sie verstaute das Schmuckstück in der Hosentasche und taumelte weiter. Das Gewicht des Mannes auf ihren Schultern wurde immer unerträglicher. Sie keuchte, taumelte gegen die Wand und stolperte mühsam vorwärts.

Als sie endlich den Ausgang erreicht hatten, merkte sie, daß sie sich verirrt hatte. Vor ihr lag ein endloser, spiegelnder Gang.

Von irgendwoher ertönte leises Gelächter.

Der Schatten bewegte sich unruhig durch die endlosen Gänge des Kabinetts. Quaraan war verwirrt, hilflos, und er hatte Angst. Er war von seinem Herrn getrennt worden, bevor sein Herr ihm genauere Befehle erteilen konnte, und er spürte, daß ihm etwas zugestoßen war, aber seine Intelligenz reichte nicht aus, um die Natur der Gefahren zu erkennen.

Er war ein Wesen, das nur geschaffen worden war, um zu töten, wenn sein Herr es befahl, nicht um zu denken. Quaraan spürte seine Anwesenheit deutlich, aber da war irgend etwas, das ihn daran hinderte, zu ihm zu gelangen.

Seine Umgebung verwirrte ihn. Er witterte Gefahr, spürte, daß er von Feinden eingekreist war, und alles in ihm drängte danach, seiner Bestimmung zu folgen und zu kämpfen, doch es war keine Gefahr, wie er sie kannte. Es war kein körperlicher Gegner. Die Wände selbst schienen Gefahr zu atmen; der Boden strömte Gefahr aus wie einen durchdringenden Geruch, und von der hohen, spiegelnden Decke schien Gefahr in dünnen schleimigen Fäden herabzuhängen.

Quaraan ließ sich auf allen vieren nieder, senkte die Schnauze und begann wie ein Hund am Boden zu schnüffeln. Leise wimmernd machte sich das Killergeschöpf auf die Suche nach seinem Herren. Unruhig lief Quaraan durch die scheinbar endlosen Gänge des Labyrinths. Er hatte die Orientierung längst verloren, und seine anfängliche Zuversicht, Conelly wiederzufinden, war einer dumpfen, mit hilflosem Zorn gepaarten Niedergeschlagenheit gewichen.

Er richtete sich auf die Hinterpfoten auf, streckte die Nase in die Luft und schnüffelte. Ein neuer Geruch hatte sich in das sinnverwirrende Aroma des Labyrinths gemischt - Menschen!

Quaraan kratzte unruhig mit den Krallen über den stahlharten Fußboden, stieß ein ärgerliches Zischen aus und ließ seine gespaltene Zunge vorschnellen. Seine Erregung wuchs. Alles in ihm drängte danach, vorzustürzen und die Krallen in seine Beute zu schlagen, aber der Herr hatte ihm befohlen, unauffällig zu bleiben und auf den Befehl zum Angriff zu warten. Außerdem konnte er die Richtung aus der die Witterung kam, nicht feststellen. So, wie die spiegelnden Wände seine Augen narrten, schien das Labyrinth auch alle anderen Sinne zu verwirren. Er fauchte ärgerlich, ließ sich auf allen vieren nieder und lief mit überraschender Schnelligkeit los.