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Dann spürte er urplötzlich die Erschütterung. Es war kein körperlicher Stoß, sondern vielmehr eine Art geistiges Beben, ein Schlag, der die gesamte Schöpfung zu erschüttern schien und ihn wimmernd in die Knie brechen ließ. Seine Umgebung verschwamm vor seinen Augen. Für einen kurzen Moment löste sich das Labyrinth auf, und Quaraan fand sich in einem niedrigen, zugigen Schuppen wieder, der vom Heulen des Windes und trockener, moderiger Luft erfüllt war.

»Quaraan!«

Das Echsenwesen fuhr herum und sah sich aus kleinen boshaft funkelnden Augen um. Er hatte die Stimme seines Herrn vernommen, konnte ihn jedoch nirgendwo entdecken.

»Quaraan!« Wieder erklang die vertraute Stimme in seinem Kopf. Gleich darauf stand er wieder wie zuvor in einem von Spiegelwänden begrenzten Gang, doch diesmal hatte er erkannt, woher die Stimme kam.

Quaraan gab seine Tarnung auf, schlug mit den Krallen in die Luft und warf sich mit aller Kraft gegen einen Spiegel, doch es gelang ihm nicht, das Hindernis zu durchbrechen. Es sah aus, als würde sein eigenes Spiegelbild ihm entgegenspringen, ihn stoppen und zurückschleudern. Für einen Augenblick krümmte sich Quaraan vor Schmerzen auf dem Boden.

Es war nicht das Glas selbst, das ihn aufgehalten hatte, es hätte bei dem ungestümen Angriff zerbrechen müssen. Zusätzlich trennte ihn noch eine unbegreifliche, unsichtbare Barriere von seinem Herren, aber obwohl sein Vorstoß mißlungen war, hatte er gespürt, daß die unsichtbare Wand Risse bekommen hatte. Die gleiche Kraft, die zuvor die Realität des Labyrinths erschüttert hatte, schien sich immer noch wie eine Welle auszubreiten und gegen die unsichtbare Barriere zu brausen.

Er richtete sich mühsam auf, konzentrierte sich und wagte einen weiteren Vorstoß. Gleichzeitig spürte er, wie Conelly sich auf der anderen Seite mit aller Gewalt gegen die unsichtbaren Fesseln stemmte.

Ein hoher, klagender Ton quälte Quaraans empfindliche Ohren. Dunkle, wesenlose Schatten trübten seinen Blick, und für Bruchteile von Sekunden verschwammen die Konturen des Labyrinths ein zweites Mal vor seinen Augen, aber im gleichen Moment zerbarst das Hindernis mitsamt dem Spiegel dahinter. Aus der Öffnung kam der Herr getaumelt.

Conelly schwankte. Sein Gesicht war verzerrt, und in seinen Augen flackerte ein schwacher Abglanz der Qualen, die er durchlitt. Er machte zwei, drei unsichtbare Schritte, brach in die Knie und blieb stöhnend liegen.

»Ulthar!« flüsterte er. Seine Stimme war ein heiseres Keuchen, gleichermaßen von Schmerz wie von Wut verzerrt.

Quaraan sprang mit einem freudigen Satz auf seinen Herrn los, schnüffelte wie ein Hund an seiner Schulter und leckte seine Hände. Conelly schleuderte ihn mit einem wütenden Schlag beiseite. In seinen Augen loderte Haß. »Töte ihn«, keuchte er heiser. »Vernichte Ulthar!«

Quaraan stieß ein erregtes Zischen aus. Töten! Die Zeit des Wartens war endgültig vorbei. Er würde töten. Mit einer fließenden Bewegung fuhr er herum und verschwand mit flinken Bewegungen in den Tiefen des Labyrinths.

Er hatte einen Auftrag zu erfüllen.

18

Sie wartete auf einen Aufprall, der niemals kam. Das Gefühl zu fallen verschwand so übergangslos, wie es gekommen war, und Vivian fand sich in einer engen, kaum anderthalb Meter hohen Kammer wieder. Von irgendwoher kam Licht; hartes, grelles, in den Augen schmerzendes Licht, und der Boden unter ihren Händen fühlte sich seltsam warm und weich an. Schwache, rhythmische Erschütterungen, die sie unwillkürlich an das Schlagen eines gigantischen Herzens erinnerten, liefen über Boden und Wände, dann veränderte sich der Raum. Warnungslos, von einem Augenblick auf den anderen, wichen die Wände zurück, wurden erst grau, dann silbern und verwandelten sich schließlich in große, leicht gebogene Spiegel. Gleichzeitig schien die Decke mit rascher Geschwindigkeit in die Höhe zu wachsen.

Vivian hatte immer mehr den Eindruck, sich nicht in einem Haus, sondern im Inneren eines riesigen, unbegreiflichen Organismus zu befinden. Sie stand auf, sah sich um und ging zögernd los. Die Kammer hatte sich in einen endlosen, sanft ansteigenden Gang verwandelt, von dem unzählige weitere Gänge und Tunnel abzweigten. Ihre Schritte erzeugten ein hallendes, metallisches Echo auf dem Boden. Von den Wänden starrten ihr Tausende von Spiegelbildern entgegen, aber es waren nicht ihre eigenen Spiegelbilder. Während Vivian den Gang entlang schritt, betrachtete sie die Abbilder der gefangenen Menschen, die Opfer von Ulthars unheimlichem Kabinett geworden waren. Männer, Frauen, Kinder, alte, junge - Ulthar schien in der Wahl seiner Opfer sehr großzügig gewesen zu sein. Ihr fiel auf, daß dieser Teil des Labyrinths schon sehr alt sein mußte. Die abgebildeten Menschen trugen Kleider, wie man sie vor dreißig oder vierzig Jahren getragen hatte. Vivian hatte den Eindruck, sich zwischen den Statisten eines Films zu bewegen, der irgendwann Ende der fünfziger Jahre spielte.

Und noch etwas fiel ihr auf: Die Bilder waren nicht alle gleich. Viele der Menschen wirkten irgendwie dünn, farblos, teilweise mit verschwommenen Konturen und kaum noch erkennbaren Gesichtern. Ähnlich einer Fotografie, die zu lange in der Sonne gelegen hatte, waren sie verblaßt, unwirklich geworden, so, als sickerten sie langsam, unendlich langsam durch den Spiegel hindurch in eine andere, fremde Welt. Vivian trat dicht an einen der Spiegel heran und fuhr prüfend mit den Fingerspitzen darüber. Das Glas fühlte sich porös an, brüchig, als wäre seine Oberfläche von Millionen unsichtbaren Rissen durchzogen.

Ein leises Schleifen ließ Vivian herumfahren. Sie runzelte die Stirn. Das Geräusch schien aus einem der angrenzenden Gänge zu dringen - ein helles, kratzendes Quietschen, als würde jemand mit einem Nagel über eine Glasscheibe fahren. Vorsichtig bewegte sie sich auf die Abzweigung zu, hinter der sie die Quelle des Geräusches vermutete.

Was Vivian sah, ließ sie erschrocken zusammenfahren. Das Wesen war kaum größer als einen Meter, und es schien eine Mischung aus einem zwergenwüchsigen Menschen und einer übergroßen Eidechse zu sein, aber ihm fehlte die grazile Feingliedrigkeit dieser kleinen Echsen. Und in seinen Augen funkelte eine böse, mordlustige Intelligenz. Der kräftige, gedrungene Rumpf ging in ein paar muskulöse Beine über, die in schrecklichen Raubtierkrallen endeten. Die Arme waren überlang und schienen ein zusätzliches Gelenk zu haben. Das Wesen besaß einen langen, schuppigen Schwanz, einen langgestreckten Schädel mit einem Krokodilgebiß und kleine, glühende Augen. Die Ähnlichkeit mit den Echsenwesen auf der Party und am Riesenrad war nur vage, aber unverkennbar. Es mußte sich ebenfalls um eine von Conellys Kreaturen handeln.

Obwohl es relativ klein war, spürte Vivian die Gefahr, die von dem Wesen ausging, überdeutlich. Es bewegte sich mit schnellen, eleganten Bewegungen durch den Gang, hielt an jeder Abzweigung an, um zu schnüffeln und den Kopf witternd in den Nacken zu legen, und huschte weiter.

Vivian folgte ihm, ohne zu zögern. Da Conelly und Ulthar verfeindet waren, vermutete sie, daß das Wesen sie zu dem Magier führen würde, vielleicht sogar den Auftrag hatte, ihn zu töten. Das würde ihre Probleme noch nicht lösen, ihr aber beträchtlich helfen. Und vielleicht würden die Spiegel nach Ulthars Tod ihre Macht verlieren, und Mark wäre wieder frei.

Das Labyrinth schien endlos zu sein. Vivian hatte schon nach wenigen Augenblicken vollständig die Orientierung verloren. Sie wußte nicht mehr, ob sie sich hinauf oder hinunter, im Kreis oder geradlinig bewegten. Aber das Ungeheuer vor ihr schien den Weg zu kennen. Es huschte auf seinen kleinen flinken Füßen durch die Gänge, hetzte über Treppen und Flure, so daß Vivian Mühe hatte, es nicht aus den Augen zu verlieren.