Schließlich blieb ihr unfreiwilliger Führer vor einer hohen, spiegelnden Tür stehen. Seine plumpen Finger kratzten über die Klinke und rüttelten daran. Sie war verschlossen. Das Wesen zischte ärgerlich, richtete sich auf die Hinterpfoten auf und schlug mit einer blitzschnellen Bewegung zu. Die Tür bebte. Es klirrte vernehmlich, als das Schloß zersplitterte, dann schwang die Tür mit leisem Quietschen nach innen.
Dahinter lag ein schmaler, niedriger Raum, der in schattiges Halbdunkel getaucht war. Nach der blendenden Helligkeit im Korridor hatte Vivian Schwierigkeiten, im Inneren des Raumes etwas zu erkennen. Sie nahm eine Anzahl schattenhafter Gestalten wahr, die sich um einen großen, rechteckigen Gegenstand versammelt hatten und scheinbar überrascht aufsahen, als die Tür aufgesprengt wurde.
Dann brach der Tumult los.
Das Wesen stieß ein triumphierendes Zischen aus und stürzte sich durch die Tür. Ein vielstimmiger Aufschrei erklang. Zwei, drei der Gestalten stellten sich dem Ungeheuer in den Weg, doch sie wurden einfach niedergerannt. Mit einer Kraft, die seiner geringen Größe und scheinbaren Harmlosigkeit spottete, fegte das Ungeheuer die Männer beiseite und stürzte sich auf Ulthar.
Der Magier wich mit schreckgeweiteten Augen zurück und hob die Hand.
Das Echsenmonster sprang. Vivian erwartete, es genau wie vorhin Sheldon gegen ein unsichtbares Hindernis prallen zu sehen, aber diesmal handelte es sich um den echten Ulthar. Die Kreatur warf sich auf ihn und riß ihn von den Füßen. Messerscharfe Krallen blitzten auf. Ulthar brüllte entsetzt und riß den Arm vors Gesicht, als die Reißzähne nach seiner Kehle schnappten. Er bäumte sich auf, warf den unheimlichen Angreifer mit der Kraft der Verzweiflung ab und kroch auf Händen und Knien davon. Die Kreatur folgte ihm wütend.
Schon dieser erste Angriff zeigte deutlich, daß Ulthar nicht den Hauch einer Chance hatte. Er hatte sich zu sicher gefühlt, doch hier nutzten ihm seine Spiegel nichts; ohne sie war er nur ein hilfloser Greis. Die Bestie schlug nach seinen Beinen, warf ihn abermals zu Boden und stürzte sich mit triumphierendem Kreischen auf ihn. Ihre Zähne gruben sich in Ulthars Schultern.
Der Magier brüllte. Seine Sklaven versuchten in den Kampf einzugreifen, doch sie verschafften ihm nur eine kurze Atempause. Im Gegensatz zu Conellys übrigen Kreaturen schüttelte das Ungeheuer die Spiegelwesen mit geradezu spielerischer Leichtigkeit ab, schleuderte sie wie Puppen zur Seite und schnappte sofort wieder nach Ulthar.
Es erreichte ihn nicht. Eine unsichtbare Faust griff plötzlich nach dem Körper der Bestie, riß sie von ihrem zappelnden Opfer fort und schmetterte sie mit brutaler Gewalt gegen den Boden.
Hinter Ulthar erschien eine schlanke, hochgewachsene Gestalt. Vivian Taylor zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen, als sie das Gesicht der Gestalt erkannte ihr eigenes Gesicht! Hinter dem hilflosen Magier stand eine genaue Kopie ihrer selbst.
Melissa.
Vivians Gedanken überschlugen sich. Sie hatte den magischen Spiegel zerbrochen, bevor sie zu seiner Gefangenen werden konnte, und sie war bislang überzeugt davon gewesen, damit gleichzeitig auch Melissas Erwachen verhindert und ihr Duplikat vernichtet zu haben. Anderenfalls hätte es für Ulthar auch keinen Grund gegeben, weiterhin solche Anstrengungen zu unternehmen, sie in die Hände zu bekommen, und zu einer Gefangenen seiner Spiegel zu machen. Ging es ihm nur darum, sie als lästige Mitwisserin auszuschalten? Vivian glaubte nicht daran. Dafür hätte es wesentlich leichtere Möglichkeiten gegeben. Schon ein paarmal hätte er die Möglichkeit gehabt, sie zu töten.
Vivian beobachtete, wie Melissa gegen das Ungeheuer kämpfte. Das Echsenwesen krümmte sich wie unter unsichtbaren Schlägen und versuchte verzweifelt, vom Boden hochzukommen. Es war ein Kampf, der mit übersinnlichen Waffen ausgetragen wurde, und Melissa besaß ungeheure Kräfte, denen das Ungeheuer nichts entgegenzusetzen hatte.
Vivian konnte nicht glauben, daß es die gleichen Kräfte waren, die auch sie selbst besaß oder zumindest besessen hatte, und doch mußte es so sein. Nur konnte Melissa sie anscheinend unendlich viel besser beherrschen.
Mühsam riß Vivian sich von dem phantastischen Anblick los und wich lautlos zurück. Sie mußte handeln, solange Ulthar und Melissa mit dem Ungeheuer beschäftigt waren. Wenn sie es erst einmal besiegt hatten, würden sie die gnadenlose Jagd auf sie wieder aufnehmen. Sie drehte sich um und lief los. Der Gang schien sich endlos vor ihr zu erstrecken, aber Vivian wußte jetzt, daß dieses Bild nicht echt war.
Illusion! hämmerten ihre Gedanken. Alles nur Illusion! Dieser Gang, die Spiegel, dieses ganze, endlose Labyrinth waren nichts als eine geschickte Täuschung, das Werk einer Magie, die sich grundlegend von allem unterschied, was sie kannte. Sie prallte gegen eine Wand, blieb stehen und schloß die Augen.
Es ist nicht echt! redete sie sich verbissen ein. Es ist alles nicht echt! Es gibt diesen Gang nicht. Dieses ganze Labyrinth ist eine Täuschung. Mit aller Kraft versuchte sie sich das Gebäude vorzustellen, wie es wirklich war. Vor ihren Augen erschien das Bild, das sie in dem kurzen Moment gesehen hatte, in dem die Kraft ihres Amuletts die Macht der Spiegel gebrochen hatte - ein schäbiger, altersschwacher Bau mit schmutzigem Lehmboden und undichten Wänden.
Der Gang um sie herum verschwamm. Graue, schmierige Flecke begannen sich in das makellose Silber des Bodens zu mengen. So, wie sich ein Tintenfleck auf Löschpapier ausbreitete, breiteten sich auf den Wänden große, blinde Flecken aus. Die Spiegel wurden unwirklich, verloren mehr und mehr an Substanz und Realität. Für einen endlos erscheinenden Augenblick sah sie die wirklichen Umrisse des Gebäudes durch das Silber der Spiegel schimmern.
Gleich darauf verschwand das Bild wieder, und der Korridor sah genauso aus wie zuvor. Erschöpft lehnte sich Vivian gegen einen Spiegel. Sie war zu schwach, um die Illusion zu brechen, kam gegen Ulthars Macht nicht an.
Ein leises Geräusch ließ sie herumfahren. Schritte näherten sich ihr. Hatten der Magier oder seine Sklaven sie aufgespürt? Instinktiv wollte Vivian zu laufen beginnen, begriff aber gleichzeitig, daß es ihr nichts genutzt hätte. Die Spiegelgeschöpfe waren ihr sowohl an Kraft wie an Schnelligkeit überlegen. Sie würde einen Verfolger nicht abschütteln, und es gab nichts, wo sie sich verstecken konnte. Sie blieb reglos stehen.
Ein Mann tauchte wenige Schritte vor ihr entfernt an der Abzweigung des Ganges auf, bog dann in ihren Korridor ein und blieb abrupt stehen, als er sie entdeckte.
Es war Conelly.
Einen Moment lang starrte er sie ebenso überrascht an, wie sie ihn, dann verzog er die Lippen zu einem häßlichen Grinsen. »Vivian Taylor«, zischte er. »Welch eine Freude, Sie zu treffen. Ich fürchte, Ulthar wird keine Gelegenheit mehr haben, Melissa zu neuem Leben zu erwecken. Sie werden nicht länger leben als er.« Sein Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse des Hasses. Langsam kam er näher.
Vivian widerstand dem Impuls, vor ihm zurückzuweichen. Sie konnte sich kaum noch vorstellen, daß es sich bei Conelly um den gleichen Mann handelte, der ihr zu Beginn der Party so sympathisch erschienen war. Aber sie wußte, daß sein Haß nicht ihr persönlich galt, sondern nur Ulthar, und das einzige, was im Moment zählte, war ihre gemeinsame Feindschaft mit dem Magier.
»Meinen Sie dieses Echsenwesen, das Sie ausgeschickt haben, um ihn zu töten?« fragte sie und bemühte sich, jedes Anzeichen von Furcht aus ihrer Stimme zu verbannen. »Ich fürchte, es wird seinen Auftrag nicht mehr ausführen können. Falls es überhaupt noch am Leben ist. Als ich es vor ein paar Minuten zuletzt sah, hatte es Ulthar nicht mehr viel entgegenzusetzen.«
»Sie lügen!« behauptete Conelly. »Niemand kann Quaraan besiegen, nicht einmal Ulthar.«