»Auch Melissa nicht?«
Vivian hatte ihre Frage bewußt in beiläufigem Ton gestellt, was die Wirkung noch verstärkte. Conelly blieb stehen. Ihre Worte hatten ihn getroffen. Für einen kurzen Moment hatte er sich nicht mehr völlig unter Kontrolle, und es gelang ihm nicht, seinen Schrecken zu verbergen. Deutlich war die Bestürzung auf seinem Gesicht zu erkennen. »Melissa?«
»Ulthar hat sie bereits erweckt. Ich hatte geglaubt, daß ich es verhindert hätte, aber vorhin habe ich sie gesehen. Sie kämpfte gegen Ihre Kreatur.«
»Lüge!« stieß Conelly noch einmal hervor. »Wenn Melissa wirklich frei wäre, wären Sie zu einer Gefangenen von Ulthars Spiegeln geworden. Sie versuchen nur, Ihr Leben mit dieser Lüge zu retten.«
Er kam weiter auf sie zu.
»Meines und auch Ihres«, sagte Vivian leise, aber mit um so größerem Nachdruck. Sie erreichte ihr Ziel, Conelly blieb erneut stehen. Sie hatte sein Interesse geweckt und fuhr rasch fort: »Ich bin Ulthar zwar entkommen, aber ich bin immer noch in diesem Labyrinth gefangen. Genau wie Sie.«
»Entkommen ...«
»Wenn es nicht so wäre, wären Sie doch längst nicht mehr hier«, fiel ihm Vivian ins Wort. Ihre Angst war fast völlig verschwunden, jetzt kam es nur darauf an, Conelly zu überzeugen. »Nicht hier, und vor allem nicht allein in Ulthars direktem Machtbereich. Im Moment ist er anscheinend noch zu beschäftigt, um sich um uns zu kümmern, aber wir sitzen beide in der Falle, und er hat uns sicherlich nicht vergessen.«
Conelly zögerte. Er rang sichtlich mit sich. »Angenommen, Sie hätten recht«, sagte er schließlich mißtrauisch. »Was schlagen Sie vor?«
Vivian atmete auf. Sie hatte noch nicht gewonnen, aber sie hatte die erste Hürde genommen. Conelly schien zumindest bereit, ihr zuzuhören. »Wir sind nicht gerade Freunde«, sprach sie weiter. »Aber im Grunde sind wir auch keine Feinde. Ich weiß kaum etwas über Sie, und vielleicht ist es auch besser so. Aber ich weiß, daß Sie mich nur wegen Melissa töten wollten. Mittlerweile hat Ulthar sie wieder erweckt, es gibt also keinen Grund mehr, warum Sie mich länger verfolgen sollten.«
»Woher weiß ich, daß Sie die Wahrheit sagen? Bislang habe ich keinen Beweis, daß Melissa nicht mehr in Ihnen steckt.«
Auch auf diesen Einwand war Vivian vorbereitet. »Dieses Killerwesen«, entgegnete sie. »Ich habe gesehen, wie es gegen Ulthar und seine Spiegelsklaven gekämpft hat. Der Magier hatte keine Chance, wie Sie es gesagt haben. Ihre Kreatur müßte ihn längst getötet haben, und ich nehme an, sie sollte anschließend zu Ihnen zurückkehren.« Demonstrativ schaute sich Vivian um. »Bis jetzt ist nichts von ihr zu entdecken. Glauben Sie mir, sie ist tot.«
Conellys Nervosität steigerte sich plötzlich. »Nicht einmal Melissa könnte Quaraan aufhalten«, stieß er hervor, doch es klang nicht sehr überzeugt.
»Ich habe lange Zeit Melissas Kräfte gehabt«, erinnerte Vivian. »Auch wenn ich immer nur einen Bruchteil davon benutzen konnte, habe ich immer gespürt, daß da viel mehr Potential war. Aber ich habe mich nie getraut, es anzuwenden, auch nur mit ihnen zu experimentieren. Ich wußte, daß ich dieses Potential nicht beherrschen könnte. Aber Melissa kann es, und sie hat keine Skrupel, diese Kräfte einzusetzen. Dieser ... Quaraan hatte keine Chance. Und wir werden sie auch nicht haben, wenn es uns nicht gelingt, von hier zu fliehen.«
Conelly schwieg einige Sekunden lang. Aufgeregt ging er im Gang auf und ab. Seine Augen glühten in einem unheiligen Feuer. »Und was sollen wir Ihrer Meinung nach tun?«
»Ich sagte schon, wir sind keine Feinde. Unser gemeinsamer Feind ist Ulthar, und wenn wir zusammenhalten, können wir ihn vielleicht besiegen, zumindest aber von hier entkommen.«
»Und wie?«
»Dieses ganze Labyrinth ist eine Täuschung. Deshalb gibt es auch keinen Ausgang. Ich habe es schon einmal geschafft, Ulthars Illusion zu zerstören, allerdings nur für einen kurzen Moment. Sie müssen es gemerkt haben.«
Conelly nickte langsam. »Sie also waren das. Durch Sie bin ich Ulthars Spiegeln überhaupt erst entkommen. Wie haben Sie es gemacht?«
»Ich ... ich weiß es nicht«, gestand Vivian. »Es war ein Zufall. Ich habe es noch einmal versucht, aber ich war nicht stark genug. Beim ersten Mal hatte ich ein Amulett, das mir half, meine Kräfte zu kontrollieren, doch ich habe es verloren.« Sie zuckte hilflos mit den Schultern. »Es war der richtige Weg. Nur fehlt mir allein die Kraft. Vielleicht schaffen wir es gemeinsam.«
Erneut blitzte Mißtrauen in Conellys Augen auf. »Ihre Kräfte?« wiederholte er gedehnt. »Ich denke, Sie besaßen diese Kräfte nur durch Melissa? Wie könnten Sie immer noch Melissas Hexenkräfte besitzen, wenn Ulthar Sie beide angeblich getrennt hat?« Er packte Vivian hart an den Schultern und schüttelte sie. »Antworten Sie!«
Vivian überlegte fieberhaft. Conellys Frage war durchaus berechtigt, stellte sich aber erst, seit sie wußte, daß Melissa als eigenständige Person existierte. Während ihrer von Panik erfüllten Flucht hatte sich Vivian über diesen Punkt keine Gedanken gemacht. Eigentlich hätte sie ihre Kräfte verlieren müssen im gleichen Moment, in dem Melissa ihren Körper verlassen hatte. Noch einmal sah sie den Kampf Melissas mit dem Echsenwesen vor sich, und erst jetzt erinnerte sie sich, wie maskenhaft starr Melissas Gesicht gewesen war, wie leblos ihr Blick, wie hölzern ihre Bewegungen. Es hatte Vivian überrascht, daß die Trennung überhaupt stattgefunden hatte, aber anscheinend war sie nicht vollständig gelungen. Wenn ihre Theorie stimmte, bedeutete das letztlich, daß zumindest ein Teil Melissas immer noch in ihr schlummerte und Ulthar nicht mehr als ein weiteres Spiegelbild erzeugt hatte. Ein Spiegelbild, das die gleichen Kräfte besaß und sie auch perfekt einzusetzen vermochte, das aber dennoch nicht Melissa war.
Das jedoch konnte sie Conelly unmöglich sagen. Obwohl er sich meisterhaft zu verstellen verstand, herrschte in seinem Inneren ein Aufruhr, der blitzschnell in unbeherrschte Hysterie umschlagen konnte. Wenn sie auch nur andeutete, daß sie möglicherweise immer noch Melissa in sich beherbergte, würde er sie ungeachtet aller Konsequenzen aus purer Angst töten.
»Sie tun mir weh«, keuchte sie, um Zeit zu gewinnen.
»Sie sollen mir antworten«, rief Conelly, lockerte seinen Griff jedoch ein wenig.
»Verdammt, ich weiß es nicht. Vielleicht hatte ich diese Kräfte von Anfang an, und deshalb ist Melissa überhaupt erst in meinen Körper gelangt. Oder sie sind im Laufe der Zeit so sehr zu einem Teil von mir geworden, daß ich sie auch ohne Melissa noch besitze. Ich weiß es nicht, begreifen Sie das doch. Ich weiß nur, daß wir von hier weg müssen. Oder wollen Sie, daß Ulthar uns wieder einfängt?«
Conelly ließ sie los. »Also gut«, sagte er schweratmend. »Sie können diese Kräfte zwar nicht annähernd so gut beherrschen wie Melissa, aber vielleicht können Sie mir noch einmal von Nutzen sein. Verschwinden wir erst einmal von hier. Sie glauben, daß wir es gemeinsam schaffen, die Illusion zu überwinden?«
Vivian nickte, zuckte dann aber gleich darauf mit den Schultern. »Wir können es wenigstens probieren. Es ist unsere einzige Chance.«
»Gut. Geben Sie mir Ihre Hand. Sonst brauchen Sie nichts zu tun, ich erledige alles. Ich werde versuchen, unsere Kräfte miteinander zu verschmelzen. Entspannen Sie sich. Je ausgeglichener Sie sind, desto eher wird es gelingen.«
Vivian nickte, zögerte noch einmal kurz und reichte ihm dann ihre Hand, während sie sich gleichzeitig zu entspannen versuchten. Sie konnte spüren, wie irgend etwas behutsam nach ihrem Geist tastete. Ein leichtes Prickeln durchfuhr sie, und sie konnte spüren, wie sich die Härchen in ihrem Nacken aufrichteten. Die körperlose Berührung war ihr zuwider. Sie hatte das Gefühl, etwas Finsteres, Mächtiges würde sich wie eine erstickende Decke über sie breiten, und schauderte. Eine Gänsehaut lief über ihren Rücken.
Conelly verstärkte seine Bemühungen, drang tiefer in ihren Geist ein. Instinktiv sträubte sie sich dagegen, doch Conelly fegte ihren leichten Widerstand mühelos hinweg. Erst einen Augenblick zu spät begriff sie, was er wirklich vorhatte.