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Melissa ging weiter. Ihre tausend vorgestreckten Fingerspitzen verschmolzen mit denen ihrer Ebenbilder und stießen auf ein Hindernis. Sie drehte sich um. Auch die Rückwand bestand aus Spiegeln. Dutzende, scheinbar Hunderte von Spiegeln, die sie selbst und Frank in immer neuen Perspektiven zeigten. Es gab keine sichtbare Unterbrechung. Der Eingang, durch den sie gekommen waren, war verschwunden.

Melissa runzelte die Stirn. Tausend Melissas kopierten die Bewegung. Sie hatte schon von solchen Spiegelkabinetten gehört, aber zuvor noch nie selbst eines betreten. Plötzlich fielen ihr Geschichten über Leute ein, die sich in einem solchen Labyrinth verirrt hatten, und schließlich befreit werden mußten, weil sie den Ausgang aus eigener Kraft nicht mehr fanden. Das hatte sie bislang für übertrieben gehalten, aber nachdem sie dieses Kabinett nun betreten hatte, erschien es ihr durchaus vorstellbar.

Mit einemmal kehrte die Angst zurück, schlimmer und quälender als zuvor. »Ich ... ich sehe keinen Ausgang«, sagte Melissa. Sie machte eine weit ausholende Geste. Die Kammer schien in einer Woge aus reiner Bewegung zu versinken, als die Spiegelbilder ihre Geste nachahmten.

Frank zögerte. »Aber es ...« Er brach ab, machte einen Schritt und prallte gegen einen der deckenhohen Spiegel. Es klirrte vernehmlich, aber das polierte Kristallglas war unbeschädigt. Franks Spiegelbild schien ihn strafend anzusehen.

»Wir müssen nur die Nerven bewahren«, sagte Frank nervös. »Das ist ja gerade der Trick hier. Wir müssen den Ausgang selbst finden. Am besten, wir gehen das Problem mit Logik an.« Er atmete hörbar ein und fuhr sich mit einer nervösen Geste über das Gesicht. »Es gibt keine Probleme, die man nicht mit Logik und einem klaren Kopf lösen kann.« Er drehte sich einmal um seine Achse und musterte die spiegelnden Wände. Es gab tatsächlich keinen Ausgang.

»Wahrscheinlich nur ein optischer Effekt«, behauptete Frank. »Es muß irgendwo weitergehen, schließlich ist das ja der Witz bei so einem Kabinett. Es wäre wenig vergnüglich, wenn man nur in einen Raum eingesperrt würde. Am besten, wir tasten uns an den Wänden entlang. Wenn wir den Durchgang aufgrund der Optik schon nicht sehen, werden wir ihn auf alle Fälle spüren.«

Wie auf ein Stichwort hin begann plötzlich einer der Spiegel zu flackern. Das Bild wurde unscharf, verschwamm, und dann gähnte dort, wo sich eben noch die Gesichter ihrer Spiegelbilder befunden hatten, ein schwarzer, rechteckiger Durchgang.

Frank lächelte verzerrt. »Na also.«

»Was ... was war das?« stieß Melissa leise hervor. »Der Spiegel ist einfach verschwunden.«

»Das sah nur so aus«, erklärte Frank. »Ein genialer Trick, wahrscheinlich eine optische Täuschung.« Seine Stimme klang nicht so kühl und sachlich, wie er es gerne gehabt hätte. »Ich werde den Alten nachher fragen, wie das funktioniert.«

Kaum waren sie durch den Durchgang getreten, schloß sich die Tür hinter ihnen wieder, und erneut umfing sie Dunkelheit, die nach wenigen Sekunden von diesem seltsamen, orangegelben Licht abgelöst wurde.

Dieser Raum war anders. Es gab keine Spiegel, keine stummen Ebenbilder an den Wänden, aber durch einen optischen Trick schien sich der Raum bis in die Unendlichkeit auszudehnen; ein rechteckiger, hoher Korridor, der sich scheinbar kilometerweit erstreckte.

»Phantastisch«, murmelte Frank. »So etwas habe ich noch nicht gesehen.«

Sie schritten langsam den Flur hinunter, die Hände tastend wie Blinde vorgestreckt und jederzeit darauf gefaßt, gegen ein unsichtbares Hindernis zu stoßen. Aber es gab keine Hindernisse, weder sichtbare noch unsichtbare. Es war nichts als ein gerader, ebener Flur, der sich endlos dahinzog.

»Ich verstehe das nicht«, raunte Melissa. »So groß ist das Gebäude doch gar nicht.«

Frank nickte. Auch ihm war der krasse Widerspruch zwischen dem kleinen Wellblechschuppen und der scheinbaren Endlosigkeit des Ganges aufgefallen. »Wahrscheinlich bewegen wir uns im Kreis, ohne es zu merken«, suchte er nach einer Erklärung.

Melissa sah ihn zweifelnd an. Irgend etwas stimmte mit diesem Kabinett nicht. Sie spürte es, und ihr gesunder Menschenverstand bestätigte das Gefühl. Sie verstand nichts von Schaustellerei und Zaubertricks, aber sie wußte, daß dieses Spiegelkabinett eine Sensation war, mit der der Alte in wenigen Jahren Millionär werden konnte, wenn er es irgendwo anders aufbauen ließe. Und wenn er absolut nicht von hier weggehen wollte, brauchte er nur etwas Reklame zu machen, dann würden die Leute auch in Scharen hierherkommen, und vielleicht würde man auch einige der anderen Attraktionen wieder neu aufbauen und in Betrieb nehmen. Niemand, der seine fünf Sinne auch nur halbwegs beieinander hatte, würde eine solche Goldgrube hier nach und nach verkommen lassen und sich darauf beschränken, den paar Jugendlichen, die so wie sie gelegentlich hierher kamen, einen läppischen Dollar Eintrittsgeld abzuknöpfen. Irgend etwas war mit diesem seltsamen Alten und seinen Spiegeln ganz und gar nicht in Ordnung.

Der Gang endete ebenso plötzlich, wie er begonnen hatte. Gerade schien er sich noch unzählige weitere Kilometer vor ihnen auszudehnen, dann, von einer Sekunde auf die andere, fanden sie sich in einem runden, von mattgelber Helligkeit erleuchteten Raum wieder. Melissa blieb verblüfft stehen und drehte sich um. Die Wand hinter ihrem Rücken war glatt und fugenlos. Der Eingang, durch den sie in die Kammer gekommen waren, war verschwunden. Melissa fuhr herum, um Frank ihre Entdeckung mitzuteilen, und erst jetzt bemerkte sie, daß sie allein war.

Allein.

Allein in diesem runden, vielleicht fünf Meter durchmessenden Raum, der keinen sichtbaren Ausgang hatte. Sie drehte sich einmal um ihre Achse und stellte fest, daß sie ihren Orientierungssinn verloren hatte.

»Frank!« rief sie mit zitternder Stimme.

Die Wände schienen ihre Worte aufzusagen. Die Geräusche versickerten wie Wasser in einem trockenen Schwamm. Sie rief noch einmal nach Frank, ohne eine Antwort zu bekommen. Dafür öffnete sich in der Wand vor ihr ein weiterer Durchgang. Kalkweiße Helligkeit drang in ihre Kammer.

Melissa machte einen zögernden Schritt, dann noch einen. Vor dem Durchgang blieb sie stehen. Der Raum dahinter schien sich in nichts von dem zu unterscheiden, in dem sie sich befand, lediglich an der gegenüberliegenden Wand befand sich ein hoher, ovaler Spiegel.

Sie betrat die Kammer und warf einen zögernden Blick in das geschliffene Kristallglas. Zuerst sah sie nur sich selbst und die Wand in ihrem Rücken, dann ...

Die Züge ihres Spiegelbildes verzerrten sich zu einem gehässigen Lächeln. Einige Sekunden lang starrte es sie grinsend an, dann hob es den Arm und winkte Melissa zu sich heran.

Eine eisige Hand schien nach ihr zu greifen. Melissa begann zu schreien, aber es war niemand da, der ihr helfen konnte.

3

»Wie reizend, daß Sie gekommen sind, meine Liebe«, grüßte Missis Masterton und eilte Vivian entgegen, nachdem ein Butler sie in den Salon des vornehmen Hauses an der Park Avenue geführt hatte. Ihre Gastgeberin war eine aufgedrehte, zur Magersucht neigende Endvierzigerin mit hochtoupiertem, blondgefärbtem Haar und einer Brille, die ihr ohnehin schmales Gesicht noch hagerer und länger aussehen ließ. Sie reichte Vivian die Hand. Obwohl sie Mark gegenüber bei der telefonischen Einladung vor einigen Tagen ausdrücklich betont hatte, daß es sich nur um eine gemütliche Kaffeerunde im kleinen Kreis handeln sollte, hatte sie es sich nicht nehmen lassen, sich ebenso wie ihre acht oder neun Freundinnen, die hinter ihr um den gedeckten Tisch herum Platz genommen hatten, in ein teures Modellkleid zu hüllen und mit reichlich Schmuck zu behängen, so daß sich Vivian in ihrem zwar teuren, aber in erster Linie lässigen und bequemen Hosenanzug ziemlich deplaziert vorkam. Aber das war angesichts der Tatsache, daß jede der Frauen mindestens doppelt so alt war wie sie, ohnehin der Fall.