Vivian stand auf. Im ersten Augenblick wurde ihr schwindelig. Sie schwankte, kämpfte das Gefühl mit aller Willenskraft nieder und ging mit zitternden Knien auf den Türrahmen zu. Darüber war noch ein Bruchteil der ursprünglichen Wellblechverkleidung des Gebäudes zu erkennen.
Ulthars Spiegelkabinett stand seitenverkehrt darauf geschrieben.
Vivian kam nicht mehr dazu, sich weitere Gedanken darüber zu machen. Ein plötzlicher, eisiger Windstoß ließ sie erschauern. Papierfetzen und trockenes Laub trieben über den Platz, und das Geräusch des Windes, der sich zwischen den Resten der zusammengestürzten Häuser ringsum fing, echote wie grausames, höhnisches Gelächter in ihren Ohren. Sie bückte sich, hob einen Papierfetzen vom Boden auf und strich ihn glatt. Es war ein Fetzen uralter, längst verblichener Reklame, aber Vivians Augen sahen weder die bunten Bilder noch die marktschreierische Aufmachung. Ihr Blick hing wie hypnotisiert an der Schrift unter den Fotografien.
Es war Spiegelschrift, so wie auch die Buchstaben über dem Türrahmen nicht nur seitenverkehrt angeordnet waren, sondern in Spiegelschrift an der Ruine von Ulthars Kabinett prangten.
Es dauerte lange, bis Vivian die schreckliche Wahrheit begriff. Minutenlang stand sie regungslos da, starrte den Papierfetzen an und kämpfte gegen die aufsteigende Panik. Schließlich, nach einer Ewigkeit, riß sie ihren Blick von der Schrift los. Sie ließ den Papierfetzen fallen, drehte sich um und ging mit schleppenden Schritten auf die Silhouette New Yorks zu, die sich wie ein künstliches Gebirge am Horizont auftürmte.
Eines spiegelverkehrten New Yorks.
Vivian wußte nun, daß sie sich nicht an einen Alptraum erinnerte. Sie war wirklich über eine Grenze gegangen, hatte eine Barriere durchbrochen, die so phantastisch war, daß sie bisher nicht einmal an die Möglichkeit ihrer Existenz gedacht hatte.
Sie hatte die Welt hinter den Spiegeln betreten.
Es war keine Gefangenschaft innerhalb der Spiegel, wie bei Ulthars anderen Opfern und wie er es auch für sie geplant hatte, sondern etwas viel Phantastischeres. Vivian konnte sich noch genau an Conellys Heimtücke erinnern, wie er versucht hatte, sich zu befreien und sie zu töten, indem er ihr ihre Lebensenergie auszusaugen begann, aber an alles, was danach passiert war, besaß sie nur noch eine undeutliche, verschwommene Erinnerung. Conelly hatte eine Mauer in ihrem Inneren durchbrochen und dabei Kräfte freigelegt, die keiner von ihnen zu beherrschen vermochte; Kräfte, die ihn getötet und Ulthars Illusion zerstört hatten, und sie von den freiwerdenden Gewalten in diesen Riß geschleudert worden sein mußte, um hier zu stranden.
Für immer?
Vivian hatte es gespürt, als sie aus der Bewußtlosigkeit erwacht war - das Gefühl, daß hinter ihr eine Tür zugeschlagen wurde, das endgültige und unwiderrufliche Schließen einer Bruchstelle im Gefüge der Schöpfung, die überhaupt niemals hätte geöffnet werden dürfen.
Sie schloß die Augen, konzentrierte sich und tastete nach ihren magischen Fähigkeiten, versuchte, sie noch einmal zu aktivieren.
Es ging nicht.
Es war, als hätte sie niemals die Kräfte einer Hexe besessen. In ihr war nichts als eine große, bedrückende Leere. Ihre Kräfte hatten ihr den Weg hierher gebahnt, aber zurückkehren konnte sie auf dem gleichen Weg nicht.
Tiefe Mutlosigkeit überfiel sie.
Diese Welt glich ihrer alten, bekannten zumindest bis zu einem gewissen Grad, und dennoch war sie völlig fremdartig. So ähnlich, dachte Vivian, mußte sich ein Mensch fühlen, der eines Tages nach Hause kommt und feststellt, daß er zu einem Fremden in seinem eigenen Heim geworden ist.
Ein eisiger Schauer lief ihr über den Rücken, als sie an die bevorstehende Nacht dachte. Obwohl alles, was sie in den letzten Tagen auf der ehemaligen Vergnügungshalbinsel erlebt hatte, nur unangenehme Erinnerungen in ihr wachrief, schreckte sie instinktiv davor zurück, das Festland zu betreten. Coney Island bot trotz all seiner Schrecken den Schutz des Vertrauten, Bekannten. Es gab genug leerstehende Gebäude, in denen sie übernachten konnte.
Sah man von Ulthars völlig verfallenem Kabinett ab, befand sich diese spiegelverkehrte Ausgabe des Vergnügungsparks seltsamerweise in einem viel weniger fortgeschrittenen Stadium des Zerfalls. Auch hier waren die Zeichen des beginnenden Zusammenbruchs zu sehen - abblätternde Farben, zerbrochene Fensterscheiben, fingerdicke Staubschichten auf dem Boden, Holzwände und Balken, die sich unter dem Gewicht der Jahre zu biegen begannen. Aber es war, als wäre die Zeit hier vor dreißig oder vierzig Jahren einfach stehengeblieben. So oder ähnlich mußte Coney Island ausgesehen haben, kurz nachdem es aufgegeben worden war.
Vivian trat auf eine der Buden zu, um darin Schutz vor der hereinbrechenden Nacht zu suchen. Der Eingang war mit Brettern vernagelt, doch es fiel ihr nicht sonderlich schwer, sie zu entfernen.
Dahinter lag das Nichts.
Es dauerte mehrere Sekunden, bis ihr bewußt wurde, daß sie nicht einfach vor einem Abgrund oder am Eingang eines großen Raumes stand. Auf eine unbegreifliche Art endete die Welt schlichtweg jenseits des Torbogens, so als wäre die Schöpfung an dieser Stelle einfach nicht zu Ende geführt worden. Vivian wagte es nicht, den Raum zu betreten. Statt dessen prallte sie mit einem Schrei zurück und wandte den Blick ab.
Sonderbarerweise war es nicht dunkler geworden, es schien eher sogar heller geworden zu sein. Sie schaute noch einmal zum Himmel hinauf, und ihre Ahnung wurde zur Gewißheit. Statt sich zu vertiefen, war das Rot der Dämmerung blasser geworden, und die Sonne stand zweifellos höher als noch vor Minuten. Vivian schalt sich selbst eine Närrin. Sie hatte sich vom Stand der Sonne täuschen lassen; was sie sah, war keine Abend-, sondern bereits die Morgendämmerung, und in einer spiegelverkehrten Welt ging die Sonne natürlich nicht im Osten, sondern im Westen auf. Der Gedanke war nur eine logische Schlußfolgerung, und dennoch führte er ihr erst richtig vor Augen, wie fremd diese Welt wirklich war, wenn selbst die elementarsten Gesetzmäßigkeiten der Natur umgekehrt worden waren.
Die Verzweiflung schlug wie eine erdrückende Woge über Vivian zusammen. Einen Moment lang fragte sie sich allen Ernstes, welchen Sinn es noch hatte, überhaupt weiterzugehen und sich irgendwelche Hoffnungen zu machen, statt sich gleich an Ort und Stelle hinzusetzen und auf den Tod zu warten - oder den Wahnsinn. Bei allem, was ihr in den vergangenen Tagen widerfahren war, hätten die meisten anderen Menschen wahrscheinlich schon längst den Verstand verloren. Auch sie hatte nie an dämonische Flugmonster und Echsenungeheuer geglaubt, so wenig wie an zum Leben erwachende Spiegelbilder, aber aufgrund der in ihr steckenden paranormalen Fähigkeiten wußte sie bereits von Kindheit an, daß es das gab, was andere als übernatürlich bezeichneten, daß es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gab, als andere sich auch nur träumen ließen. Dieses Wissen hatte ihr bislang geholfen, mit dem Erlebten fertig zu werden, und es bewahrte sie auch jetzt davor, in Verzweiflung zu versinken und sich selbst aufzugeben. Bis zu ihrer Hochzeit mit Mark hatte sie in ihrem Leben um alles kämpfen müssen, nichts war ihr geschenkt worden, und deshalb wußte sie nur zu gut, daß nur der wirklich verloren war, der sich selbst verloren gab. Sie würde auch jetzt nicht einfach resignieren, selbst wenn ihre Situation noch so aussichtslos erscheinen mochte.
Beinahe ohne es zu merken, hatte Vivian die Richtung zum Strand eingeschlagen, dorthin, wo sie am gestrigen Morgen das Boot entdeckt hatte. Sie blieb stehen. Die Wellen bewegten sich sonderbar träge und schwerfällig. Für einen Augenblick hatte sie das Gefühl, die Zeitlupenaufnahme einer Meeresbrandung zu betrachten. Vivian kniete nieder, beugte sich vor und tauchte die Finger ins Wasser. Es war überraschend warm und fühlte sich kaum wie normales Wasser, sondern eher wie eine zähflüssige Flüssigkeit an. Ihre Hand bewegte sich gegen ihren Willen, als die nächste Welle heranrollte. Vivian stand stirnrunzelnd auf, betrachtete die glitzernde Flüssigkeit auf ihren Fingerspitzen und ging weiter. Diese Welt würde noch mehr Überraschungen und Rätsel für sie bereithalten, und sie hatte das Gefühl, daß die wenigsten davon angenehmer Natur sein würden.