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Der feinkörnige, weiße Sand knirschte unter ihren Füßen, als sie am Strand entlangging. Schließlich erreichte sie eine Uferböschung an der Übergangsstelle zwischen Coney Island und dem Festland und stieg sie hinauf. Am Ende einer zerbröckelnden Asphaltstraße, die vom Highway zum Strand hinunterführte, stand ein uralter Dodge Station Car. Vivian blieb unwillkürlich stehen und hielt nach dem Fahrer Ausschau. Der Wagen war das erste sichtbare Zeichen von menschlichem Leben, das sie seit ihrer unfreiwilligen Ankunft hier bemerkte. Aber es gab in weitem Umkreis nicht die geringste Spur eines Menschen. Der Strand schien genauso leer und ausgestorben wie der übrige Teil der Halbinsel, den sie bislang gesehen hatte. Und wie wahrscheinlich diese ganze Welt, wisperte eine Stimme in Vivians Gedanken. Es war gut möglich, daß sie der einzige Mensch hier war, vielleicht sogar das einzig lebende Wesen überhaupt. Bislang hatte sie keinen einzigen Vogel gehört, obwohl noch am vergangenen Tag zahlreiche Möwen über dem Meer gekreist hatten. Es schien außer ihr einfach keine Lebewesen in dieser Welt zu geben.

Sie ging auf der Uferböschung entlang, betrat den Highway und näherte sich vorsichtig dem Wagen. Die Tür auf der Beifahrerseite stand offen. Das Fenster war halb heruntergelassen, und der Zündschlüssel steckte noch im Schloß, als wäre der Besitzer nur kurz weggegangen, um sofort zurückzukommen. Vivian umrundete den Dodge einmal und betrachtete ihn eingehend. Solche Modelle waren schon nicht mehr gebaut worden, als sie selbst noch nicht einmal geboren war, trotzdem machte der Wagen einen relativ neuen Eindruck. Der Lack wies nicht den geringsten Kratzer auf, und der Chrom auf Radkappen, Stoßstangen und Türgriffen glänzte so makellos, als wäre er erst vor kurzer Zeit frisch poliert worden.

Vivian zögerte nicht länger. Der Wagen würde wahrscheinlich noch in hundert Jahren hier stehen, ohne daß sich jemand um ihn kümmerte. Sie schob die Tür zu, umrundete das Fahrzeug noch einmal und ließ sich auf den Fahrersitz fallen.

Das Steuer befand sich auf der falschen Seite.

Vivian seufzte, zog die Tür hinter sich ins Schloß und rückte ächzend auf den vermeintlichen Beifahrersitz hinüber. Solche Fehler würden ihr noch öfter unterlaufen. Es war nicht leicht, Gewohnheiten, die sich ein Leben lang eingeprägt hatten, von einer Minute zur anderen zu andern.

Sie versuchte zu starten, griff automatisch nach einem nicht vorhandenen Sicherheitsgurt und lächelte flüchtig. Der Dodge war vierzig Jahre alt. Damals hatte noch niemand an Sicherheitsgurte gedacht. Vivian drehte den Zündschlüssel gegen den Uhrzeigersinn, trat mit dem rechten Fuß die Kupplung durch und legte vorsichtig den Gang ein. Der Motor heulte protestierend auf und machte einen wilden Satz, als sie viel zu hastig Gas gab und die Kupplung mit einem Ruck kommen ließ. Es war gar nicht so leicht, mit dem linken Fuß Gas und Bremse zu bedienen. Der Dodge schaukelte und bockte wie ein Boot im Sturm, als sie auf den Highway einbog und nach Süden fuhr. Sie hatten New York in südlicher Richtung verlassen, um nach Coney Island hinauszukommen. Also mußte sie - den spiegelverkehrten Gesetzen dieser Welt gehorchend - auch wieder in südlicher Richtung zurückfahren. Allmählich bekam sie eine ungefähre Vorstellung, von den Schwierigkeiten, die ein längerer Aufenthalt in dieser seitenverkehrten Umgebung mit sich bringen würde.

Sie fuhr an einem spiegelverkehrten Hinweisschild vorbei, ohne sich die Mühe zu machen, es zu entziffern.

Und dann sah sie plötzlich das Gespenst.

Natürlich war es nicht wirklich ein Gespenst, aber es wirkte zumindest so, wie man sich im allgemeinen einen Geist vorzustellen pflegte. Vivian brachte den Wagen mit einem harten Ruck zum Stehen und starrte verblüfft auf die schemenhafte Gestalt, die vor ihr die Straße überquerte.

Eigentlich war der Mann nur in Umrissen zu erkennen. Sein Körper wirkte transparent, als bestünde er nicht aus fester Materie, sondern aus einem farbigen Gas, das sich auf geheimnisvolle Weise zu den Konturen eines Menschen zusammengeballt hatte. Vivian konnte deutlich sehen, wie sich Büsche und Gras hinter ihm im Wind bewegten.

Der Mann blieb stehen, sah sich nach allen Seiten um und trat dann mit schnellen Schritten auf den Highway hinaus. Er überquerte die Straße, sprang mit einem Satz über die Leitplanke und blieb aufatmend stehen. Sein Verhalten erinnerte Vivian unwillkürlich an das Gehabe eines Mannes, der froh war, eine stark befahrene Straße unbeschadet überquert zu haben - nur daß die Straße völlig leer war. Mit Ausnahme von Vivians Dodge war weit und breit kein weiteres Fahrzeug zu entdecken.

Vivian legte den Gang ein und fuhr hinter dem Mann her. Er war weitergegangen, aber er schien es jetzt nicht mehr besonders eilig zu haben. Trotz ihrer unheimlichen Erscheinung wirkte die Gestalt nicht bedrohlich, aber Vivian hatte aus bitterer Erfahrung in den letzten Tagen lernen müssen, daß oft ganz reale Gefahren hinter scheinbar harmlosen Dingen steckten. Sie gab behutsam Gas, lenkte den Wagen auf die andere Straßenseite und fuhr langsam an der Erscheinung vorbei. Der Mann schien sie nicht zu bemerken. Er ging ruhig weiter, blieb einmal kurz stehen, um sich mit umständlichen Bewegungen eine Zigarette anzuzünden, und schlenderte dann weiter in Richtung City.

Und dann verschwand er.

Vivian trat verblüfft auf die Bremse und sprang aus dem Wagen. Mit zwei, drei großen Schritten war sie an der Stelle, an der die Erscheinung vor wenigen Augenblicken noch gestanden hatte. Sie konnte keine Spur mehr von ihr entdecken. Der Mann hatte sich so spurlos aufgelöst, als hätte er nie existiert.

Vielleicht hat er auch nicht existiert, wisperte eine kleine, boshafte Stimme in ihren Gedanken. Vielleicht hast du dir nur eingebildet, ihn zu sehen. Vielleicht wirst du langsam verrückt.

Verrückt ... verrückt ... verrückt ...

Vivian stöhnte, preßte die Fäuste gegen die Schläfen und versuchte, die quälende, flüsternde Stimme zu verdrängen. Sie war nicht verrückt. Sie wußte, daß sie den Mann gesehen hatte - oder vielmehr den Schatten eines Mannes. Und für einen kurzen, flüchtigen Moment erinnerte sie sich auch, wo sie ein ähnliches Bild schon einmal gesehen hatte, aber der Gedanke entschlüpfte ihr, bevor sie ihn richtig fassen konnte. Sie starrte eine Weile hilflos auf die Stelle, an der die geisterhafte Erscheinung gestanden hatte, ehe sie sich umdrehte und mit erzwungenen ruhigen Schritten zum Wagen zurückging. Nein - sie war nicht verrückt. Weder sie noch diese Welt. Der Mann stellte nur ein weiteres Fragezeichen in einer Kette ungelöster Rätsel dar, die die Spiegelwelt für sie bereit hielt. Sie würde sie lösen. Irgendwie.

Sie setzte sich hinter das Steuer, ließ den Motor an und fuhr langsam weiter. Ihr Blick fiel in den Rückspiegel. Das Hinweisschild, hinter dem die Erscheinung aufgetaucht war, war zu einem winzigen, streichholzschachtelgroßen Rechteck zusammengeschrumpft, das im Grün und Braun der Küstenlandschaft seltsam deplaziert wirkte. Und davor stand der Mann.

Vivians Augen weiteten sich ungläubig. Für einen Moment verlor sie die Kontrolle über den Wagen. Der Dodge brach aus, schlitterte über die Straße und kam mit kreischenden Reifen zum Stehen. Der Motor erstarb mit einem würgenden Husten, und irgendwo im Kofferraum löste sich schleppend ein Metallteil und krachte gegen die Rückbank. Aber von alledem bemerkte Vivian nichts. Ihr Blick hing wie gebannt an der winzigen, halbtransparenten Gestalt, die vor dem Reklameschild aufgetaucht war.