Die Verblüffung dauerte nur eine Sekunde. Dann reagierten Vivians Instinkte. Ihre Hände schienen sich ohne ihr Zutun zu bewegen. Sie drehte den Zündschlüssel, trat unbewußt Kupplung und Bremse in umgekehrter Reihenfolge und wendete den Wagen mit aufbrüllendem Motor und protestierend kreischenden Reifen. Der Dodge machte einen Satz, der seinem scheinbaren Alter Hohn sprach, und preschte auf der Gegenfahrbahn zurück. Sie erreichte die Reklametafel in dem Augenblick, als der Mann sich anschickte, die Straße zu überqueren. Vivian riß das Steuer herum, trat hart auf die Bremse und stellte den Wagen quer. Fünf Meter schwarzlackiertes Blech blockierten den Weg der Erscheinung. Der Mann reagierte jedoch überhaupt nicht auf den Dodge. Er schien aufmerksam nach rechts und links zu sehen, trat dann auf die Fahrbahn hinaus und lief mit weitausgreifenden Schritten los ... auf den Wagen zu ... und hindurch!
Obwohl Vivian Taylor fast damit gerechnet hatte, daß so etwas passieren würde, verschlug ihr der Anblick für einen Moment den Atem. Die Gestalt ging direkt auf den Wagen zu, ohne ihre Geschwindigkeit auch nur zu verringern. Der transparente Körper schien für einen Moment mit dem Kühler des Dodge zu verschmelzen und ging ungerührt weiter. Das Hindernis schien für ihn gar nicht zu existieren. Er schien es nicht einmal zu sehen.
Genausowenig, wie ich den Verkehr sehe, der auf dieser Straße fließt, dacht Vivian. Oder den Körper dieses Mannes. Ich sehe nur seinen Schatten, sein ... Spiegelbild.
Plötzlich wußte sie, wieso ihr die Erscheinung so sonderbar vertraut gewesen war. Und sie wußte auch wieder, wo sie ähnliche Bilder schon einmal gesehen hatte. In Ulthars Kabinett.
Das Bild des endlosen Ganges erschien wieder vor ihren Augen. Die Spiegel hatten die Abbilder der Sklaven gezeigt, die Ulthar unter seinen Willen gezwungen hatte. Aber einige waren leer gewesen, und viele von ihnen hatten seltsam unwirklich gewirkt; verblaßt, undeutlich und mehr oder weniger transparent. Es gab nur eine Erklärung. Die Spiegel mußten eine Verbindung zu dieser Welt darstellen. Ein Tor, über das die gefangenen Menschen allmählich in diese Welt vordrangen, wenn auch nur ganz langsam. Es geschah auf eine ganze andere Art als bei Vivian und änderte nichts daran, daß die Umstände, durch die sie selbst hierhergelangt war, einen vermutlich einmaligen Vorgang darstellten, aber dennoch bedeutete es, daß durch die Spiegel eine direkte Verbindung zwischen der Realität und dieser Welt bestand, eine Verbindung, die möglicherweise nicht nur von einer Seite aus durchlässig war.
Und es bedeutete auch, daß sie nicht allein war. Vivian hatte nur einen winzigen Teil des endlosen Labyrinths gesehen, aber selbst dort war ihr bereits die große Zahl der leeren Spiegel aufgefallen. Wenn alle ursprünglich darin gefangenen Menschen hierher gelangt waren, mußte es sich um Hunderte handeln. Nicht übermäßig viel, wenn sie bedachte, daß sich diese Welt wohl kaum nur auf eine Spiegelausgabe New Yorks beschränken würde, aber Vivian vermutete, daß sich die meisten Gefangenen irgendwo in der Nähe aufhielten, statt sich allein oder in kleinen Gruppen über diese leere, fremde Welt auszubreiten.
Sie wendete erneut, fuhr an der schemenhaften Gestalt vorbei und gab Gas. Die Silhouette der City zeichnete sich deutlich gegen den Morgenhimmel ab. Sie wirkte noch immer tot und öde, aber Vivian wußte jetzt, daß es irgendwo dort vorne Menschen geben mußte. Menschen, die wie sie Opfer des wahnsinnigen Magiers geworden waren. Zum ersten Mal, seit sie die Spiegelwelt betreten hatte, spürte sie so etwas wie Zuversicht. Sie gab Gas, beschleunigte und sah ungeduldig auf den Tachometer. Die Nadel schien mit quälender Langsamkeit nach oben zu kriechen. Der Motor des Dodge heulte protestierend. Der Wagen war ein schweres, eher gemütlich wirkendes Fahrzeug, das nicht für solche Beanspruchungen gedacht war, aber Vivian beschleunigte unbarmherzig weiter.
Es dauerte nur wenige Minuten, bis die wellige Graslandschaft allmählich zurückwich und die ersten Wohnblocks rechts und links der Coney Island Avenue auftauchten, die sich durch ganz Brooklyn hindurchzog. Vivian trat das Gaspedal bis zum Boden durch, fegte mit kreischenden Reifen über Kreuzungen und um Kurven und jagte den Wagen in einem Tempo über die verlassenen Straßen, der selbst einem routinierten Rennfahrer den Schweiß auf die Stirn getrieben hätte. Die schwarzen Türme der Hochhäuser von Manhattan ragten wie die Zinnen einer surrealistischen Burg vor ihr empor. Sie spürte instinktiv, daß sie dort vorne die Lösung des Rätsels finden würde. Manhattan war in der realen Welt das Herz der Stadt, der pulsierende, lebende Kern, ohne den New York nichts weiter als irgendeine ganz normale Großstadt wäre.
Die zyklopischen Pfeiler der Manhattan-Bridge tauchten vor ihr auf. Vivian riß den Wagen mit einem halsbrecherischen Manöver die Auffahrt empor, schaltete herunter und jagte mit über achtzig Meilen über das breite, verlassene Asphaltband. Wenige Minuten später erreichte sie den Broadway und hielt mit kreischenden Reifen. Erst jetzt kam sie dazu, sich ihre Umgebung genauer anzusehen. Der Anblick war entsetzlich.
Eigentlich konnte sie nicht einmal sagen, worin die Veränderung bestand. Die Häuser und Straßenzüge wirkten auf den ersten Blick, wie sie sie von früher kannte: riesige, wuchtige Gebilde aus Stahl, Beton und Glas, die wie die Wände einer künstlich errichteten Schlucht rechts und links in den Himmel zu wachsen schienen. Die Veränderung war nicht äußerlich, aber sie existierte. Vivian spürte sie überdeutlich. Irgendwie, ohne daß sich irgend etwas an ihrer Umgebung sichtlich geändert hatte, war der Gesamteindruck falsch. Es war, als lauere hinter den vertrauten Umrissen eine dumpfe, boshafte Macht, ein schweigendes Grauen, das darauf wartete, über jeden Fremden herzufallen, der es wagte, seinen Fuß in sein Territorium zu setzen.
Vivian versuchte, das Gefühl der Furcht, das in ihr emporstieg, zu unterdrücken, aber es gelang ihr nicht. Im Gegenteil - das Gefühl schien mit jedem Augenblick stärker und drängender zu werden. Für wenige Sekunden mußte sie gegen den Impuls ankämpfen, umzudrehen und in panischer Angst davonzurasen. Diese Welt war nicht für sie geschaffen. Allein die Anwesenheit eines lebenden Wesens mit freiem Willen stellte eine Blasphemie dar, das spürte Vivian.
Mit erzwungenen ruhigen Bewegungen zog sie den Zündschlüssel ab, öffnete die Tür und stieg aus. Es war kalt. Ein eisiger, durchdringender Wind schien aus dem Zentrum Manhattans zu ihr herüberzuwehen, Wind, der nicht nur physische Kälte mit sich brachte, sondern auch etwas in ihr erschauern ließ. Sie schlug die Wagentür hinter sich ins Schloß und ging langsam über die Straße. Ihre Schritte riefen ein verzerrtes, hallendes Echo hervor, und der Wind schien plötzlich stärker und wütender zu werden, als reagiere er bereits auf die Anwesenheit eines Eindringlings in seinem Reich.
Vivian blieb stehen, atmete tief durch und drehte sich einmal um ihre Achse. Ihr Blick wanderte unruhig an der Häuserfront entlang. Ihr Herz klopfte wild und schmerzhaft, und ihre Finger zitterten. Das Licht wirkte hier anders als draußen auf Coney Island oder dem restlichen New York. Eigentlich anders als jede Beleuchtung, die sie bisher zu Gesicht bekommen hatte - irgendwie kälter und härter. Es gab keine Schatten, keine Grau- und Mischtöne, sondern nur harte Konturen und gerade, wie mit dem Lineal gezogene Trennlinien zwischen grellem Sonnenlicht und tiefstem Schwarz. Der Anblick schmerzte in ihren Augen. Selbst der Wagen, mit dem sie hergekommen war, wirkte plötzlich verändert. Er hatte das Aussehen der gutmütigen Familienkarosse verloren und hockte jetzt schwarz und drohend inmitten der abweisenden Einsamkeit der Straße; ein buckeliges, drohendes Ungeheuer aus schwarzem Stahl und Feindseligkeit.
Vivian drehte sich fröstelnd herum und ging langsam die Straße hinunter. Der Wind blies ihr kalt ins Gesicht, und die Aura der Feindseligkeit, die ganz Manhattan einzuhüllen schien, vertiefte sich mit jedem Schritt, mit dem sie sich dem Zentrum näherte. Sie ging langsam in östlicher Richtung weiter, wobei sie immer wieder den Kopf in den Nacken legte und nach oben blinzelte. Durch die immense Höhe der Häuser entstand der Eindruck, daß sich die Wände über ihr nach innen wölbten. Der Himmel war zu einem schmalen, azurblauen Band zusammengeschrumpft, das von der Sonne mit flüssigem Gold übergossen wurde. Die Straßen wirkten seltsam sauber und aufgeräumt. Der Wind heulte über glatten, makellosen Beton, fegte an Häuserwänden vorbei, die so aussahen, als wären sie erst vor wenigen Stunden fertiggestellt worden, und rüttelte an Läden, hinter denen sich makellos geputzte und klare Scheiben verbargen. Die Stadt war nicht nur tot, sondern unberührt. Hier hatte es niemals Leben gegeben. Vivian fühlte sich unwillkürlich an die Gräber ägyptischer Pharaonen erinnert, in denen die Umgebung der Toten perfekt nachgebildet worden war, manchmal in allen Einzelheiten. Auch dort hatte sie dieses Gefühl gespürt - nur viel, viel schwächer. Dieses Spiegelbild New Yorks war nichts als ein gigantisches, lebensgroßes Modell der wirklichen Stadt.