Выбрать главу

Sie überquerte eine Kreuzung, blieb stehen und sah sich unschlüssig um. Der Wind trug einen fremdartigen, unangenehmen Geruch mit sich, den sie nicht einordnen konnte. Sein Heulen klang geradezu bedrohlich, und einen Moment lang bildete sich Vivian ein, das Wispern heller, entfernter Stimmen darin wahrzunehmen.

Sie schüttelte ärgerlich den Kopf und ging weiter. Wenn man sich lange genug auf ein bestimmtes, monotones Geräusch konzentrierte, dann konnte man darin alles mögliche hören. Vor allem Dinge, die gar nicht existierten. Sie mußte einen klaren Kopf behalten, wenn sie den Weg zurück jemals finden wollte.

Und dazu war sie entschlossener denn je.

20

»Ich will hier raus!« In Mary-Lou Cramers Stimme schwang Hysterie mit. Sie kauerte zusammengesunken vor einem der hohen, kaltschimmernden Spiegel, hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und schluchzte hemmungslos. Ihre Schultern zuckten. »Bitte ... ich ... ich will raus ...«

Sheldon Porter sah hilflos auf. Er hatte sich inzwischen wieder von dem Angriff auf Ulthar erholt, doch im gleichen Maße, in dem seine Kräfte zurückgekehrt waren, schienen die Mary-Lous geschwunden zu sein. Sie wurde nicht fertig mit der Gefahr und dem Grauen, die plötzlich in ihr bis dahin wohlbehütetes Leben hereingebrochen waren. »Sie dürfen nicht aufgeben«, sagte er leise. »Wir werden den Ausgang schon finden.«

Die Worte klangen selbst in seinen Ohren hohl. Von den Wänden herab imitierten die stummen Spiegelbilder seine Lippenbewegungen. Es kam ihm wie eine grausame Pantomime vor, die einzig zu dem Zweck inszeniert wurde, um ihn zu verhöhnen. Er hatte gelogen, und er wußte es. Sie waren am Ende, hatten sich hoffnungslos verirrt. Und es bestand keine Aussicht auf Rettung. Er richtete sich auf, starrte sein Spiegelbild, das ihn tausendfach von den Wänden herab anblickte, wütend an und ballte hilflos die Fäuste. Sie waren stundenlang durch dieses verwunschene Kabinett geirrt, ohne nur eine Spur des Ausgangs zu finden. Jeder Schritt, jeder Meter, den sie zurücklegten, schien sie tiefer in das sinnverwirrende Labyrinth aus Gängen und Stollen hineinzuführen.

Wenn sich Ulthar wenigstens zeigen würde, wenn es wenigstens irgend jemanden gäbe, gegen den er kämpfen könnte! Er war hierhergekommen, um seinen Bruder zu rächen - aber alles, was er fand, waren Spiegel. Spiegel, Spiegel und immer wieder Spiegel, und selbst wenn er die Hintergründe nicht kennen würde, wäre ihm aufgefallen, daß mit den Spiegeln hier etwas nicht stimmte. Er spürte den Atem des Fremden und Bedrohlichen, der diese Gänge ausfüllte; die kaum verhüllte Drohung, die im seelenlosen Grinsen seiner Ebenbilder zu liegen schien. Der schlanke, dunkelhaarige Mann in dem Spiegel vor ihm war ihm auf absurde Weise ähnlich und fremd zugleich. Sein Gesicht wirkte eingefallen und blaß. Die Haut schimmerte wächsern. Geronnenes Blut hatte sein Haar verklebt und ein so sonderbares Muster auf seiner Stirn und der linken Schläfe hinterlassen, und unter seinen Augen lagen tiefe, dunkle Ringe.

Er drehte sich zu Mary-Lou herum, berührte sie sanft an der Schulter und versuchte, ein einigermaßen optimistisches Gesicht zu machen. Es mißlang kläglich. Er hatte plötzlich das Gefühl, etwas sagen zu müssen, aber ein Blick in ihre Augen ließ ihn verstummen. In seiner Kehle saß plötzlich ein bitterer, harter Kloß.

»Wir kommen hier nie wieder raus, oder?« fragte Mary-Lou leise und stand auf. Sie wirkte verstört und fahrig, und in ihren Augen flackerte immer stärker die beginnende Panik, aber noch versuchte sie, sich zu beherrschen.

»Wenn wir aufgeben, ganz bestimmt nicht«, entgegnete Sheldon. »Dieses verdammte Labyrinth muß ja irgendwo aufhören.« Er lachte kurz und hart. »Irgendwie werden wir es schon schaffen. Es gibt kein Labyrinth ohne Ausgang, Missis Cramer. Und notfalls müssen wir eben einen schaffen.« Er begann, seine Jacke aufzuknöpfen.

»Was haben Sie vor?«

Sheldon grinste flüchtig, warf die Jacke auf den Boden und zerrte ungeduldig an seinem Hemd. »Etwas, das ich mir erst als allerletzte Möglichkeit aufheben wollte«, erklärte er. »Aber wie es aussieht, haben wir mittlerweile alle anderen ausgeschöpft.« Er zog das Hemd vollends aus der Hose. Mary-Lou sah, daß er darunter eine dünne, silbern schimmernde Kette um den nackten Oberkörper gewunden hatte.

»Was ist das?«

Sheldon begann, die Kette mit geübten Bewegungen abzuwickeln. »Eine kleine Überraschung, die ich mir für alle Fälle mitgenommen habe. Wäre ziemlich dumm von mir, unbewaffnet hierherzukommen.«

Mary-Lou runzelte zweifelnd die Stirn. »Aber ...«

»Warum nicht?« Sheldon stopfte sich das Hemd nachlässig wieder in die Hose, ließ die Kette spielerisch durch die Luft pfeifen und wickelte sie schließlich mit gekonntem Schwung um sein Handgelenk. »Wenn man damit umgehen kann, ist sie fast so gut wie eine Pistole«, erklärte er ernsthaft. »Und auf alle Fälle besser als ein Messer.«

Mary-Lou sah den jungen Mann entgeistert an. Natürlich hatte Sheldon ihr erzählt, wie er Vivian Taylor getroffen und hierhergekommen war. Aber sie begriff plötzlich, daß es noch eine Menge gab, was sie nicht wußte. Vielleicht war das auch besser so, dachte sie. Ein unbehagliches Gefühl begann sich in ihrem Magen auszubreiten. »Sagen Sie mir endlich, was Sie vorhaben«, verlangte sie.

»Ich weiß nicht, was es mit diesen Spiegeln wirklich auf sich hat«, antwortete Sheldon. »Aber wenn sie wie normale Spiegel aus Glas bestehen, dann sind sie auch zerbrechlich. Vielleicht können wir uns auf diese Art mit Gewalt einen Ausgang bahnen.« Er lächelte kalt. »Ich weiß nicht, was passiert, aber es ist wenigstens einen Versuch wert. Es wäre besser, wenn Sie zur Sicherheit ein Stück zur Seite gehen würden.« Er wartete, bis Mary-Lou seiner Aufforderung gefolgt war, dann trat er selbst auch einen Schritt zurück, hob die Hand und wickelte die Kette mit einer knappen Bewegung ab. Ganz so zuversichtlich, wie er sich gab, war er in Wahrheit nicht, er hatte sogar ziemliche Angst. Hier hatte er es mit ihm unbegreiflichen Mächten zu tun, und vielleicht würde er durch sein Vorhaben erst recht eine Katastrophe heraufbeschwören. Aber das würde sich erst herausstellen, wenn er es versucht hatte, und viel hatten sie nicht mehr zu verlieren.

Die glitzernden Stahlglieder verwandelten sich in ein wirbelndes, pfeifendes Rad, als er die Waffe über dem Kopf kreisen ließ, dann fuhr er so schnell herum, daß Mary-Lou der Bewegung kaum noch mit Blicken folgen konnte. Die Kette zischte durch die Luft, beschrieb einen blitzenden Halbkreis und sauste mit ungeheurer Wucht nieder.

Glas klirrte. Ein helles, peitschendes Geräusch ließ Mary-Lou zusammenfahren, während ein Hagel scharfkantiger Glassplitter auf sie und Sheldon niederprasselte. Aber während das Glas zerbarst, blieb der silberne Hintergrund unversehrt. Sheldon vermochte ihn auch nicht zu zertrümmern, als er noch ein paarmal darauf einschlug und mit aller Kraft dagegentrat. Genausogut hätte er versuchen können, eine massive Felswand einzureißen.