Schweratmend trat er schließlich zurück. »Keine Chance, das Ding kaputtzukriegen«, gab er zu. »Aber umsonst war es trotzdem nicht. Wenigstens brauchen wir jetzt nicht mehr blindlings umherzuirren. Von nun an werden wir an jeder Abzweigung immer den ersten Spiegel in der Richtung, in der wir gehen, zerschlagen. Dieses verdammte Kabinett kann ja nicht endlos sein. Wir sind wahrscheinlich schon stundenlang im Kreis herumgelaufen. Aber damit ist jetzt Schluß. Kommen Sie.«
Er machte eine auffordernde Bewegung mit der Linken, grinste mit neu erwachter Zuversicht und ging los. Mary-Lou folgte ihm zögernd. Als sie die nächste Abzweigung erreichten, blieb Sheldon stehen, schwang seine Kette und zerschmetterte einen weiteren Spiegel. Das Klirren des zerbrochenen Glases hallte wie der Todesschrei eines unbegreiflichen Lebewesens durch den Gang.
»Irgendwann«, zischte Sheldon wütend, »kommen wir auf diese Weise hier heraus. Wir müssen es einfach!« Er holte wütend aus und schlug noch einmal zu, und noch einmal, und noch einmal, immer und immer wieder. Bei jedem Schlag zersprang ein Spiegel zu Millionen klirrender, schreiender Scherben. »Wir müssen!« schrie er noch einmal. Er schien sich in eine Art kalt berechnender Raserei zu steigern. Mary-Lou sah, wie sich seine Muskeln bei jedem Schlag spannten, während er die Kette mit aller Kraft gegen die Wände krachen ließ.
»Sheldon! Hören Sie auf!« schrie sie ihn an.
Ihre Stimmen schienen den Bann zu brechen. Sheldon erstarrte, schloß für einen Moment die Augen und atmete hörbar aus. »Tut mir leid«, sagte er leise. »Ich ... ich glaube, ich war dabei, durchzudrehen.«
Mary-Lou trat zögernd auf ihn zu, berührte seinen Arm und starrte auf die Zerstörung hinunter, die sein kurzer Wutanfall hervorgerufen hatte.
»Es braucht Ihnen nicht leid zu tun«, sagte sie leise. »Ich verstehe Sie.« Dutzende von Spiegeln waren zerbrochen. Der Gang war übersät mit Glasscherben, und die leeren Rahmen wirkten auf Mary-Lou plötzlich wie augenlose Höhlen, die sie anklagend anstarrten. »Ich wollte, ich könnte es auch«, sagte sie plötzlich.
Sheldon lachte leise. »Tun Sie es. Es erleichtert.«
»Der Besitzer dieses Kabinetts wird es sicher nicht gerne sehen, wenn wir es zerschlagen.«
Sheldon grinste schief. »Ich hoffe es. Vielleicht locken wir ihn damit endlich aus seinem Loch heraus.« Er fuhr wütend herum und zerschmetterte einen weiteren Spiegel. »Ich werde dieses verdammte Kabinett kurz und klein schlagen, wenn es sein muß, Missis Cramer.«
»Das werden Sie ganz bestimmt nicht tun!« erklang eine Stimme hinter ihnen.
Mary-Lou fuhr mit einem kleinen, spitzen Aufschrei herum und starrte den leicht übergewichtigen Mann mit der beginnenden Stirnglatze an, der ein paar Schritte entfernt im Gang aufgetaucht war. »Jeremy!«
Jeremy Cramer sah seine Frau kurz an und lächelte kalt. »Es war nicht sehr klug von dir, mir zu folgen, Mary«, sagte er.
Mary-Lou schluckte krampfhaft. »Ich ...«
Jeremy schnitt ihr mit einer herrischen Bewegung das Wort ab. »Still jetzt. Wir unterhalten uns später.« Er ließ seinen Blick zu Sheldon wandern. »Sie hätten das besser nicht tun sollen, Sheldon. Mary-Lou hat recht - wir sehen es nicht gerne, wenn jemand unser Eigentum zerstört.«
Sheldon sah Mary-Lou verwirrt an. »Wer ist das?«
Mary-Lou zögerte. »Jeremy«, sagte sie schließlich. »Mein ... Mann. Oder das Wesen, das seine Stelle eingenommen hat«, fügte sie hastig hinzu.
Cramer grinste und bewegte sich mit kleinen, trippelnden Schritten auf Sheldon zu. Unter seinen Schuhsohlen knirschte Glas. »Geben Sie mir die Kette, Sheldon!«
Sheldon grinste abfällig. »Hol sie dir!« Er wich einen halben Schritt zurück, duckte sich und reckte kampflustig das Kinn vor. Die Kette pendelte lose in seiner Hand.
Ein kaum merkliches Flackern in Jeremys Augen warnte Mary-Lou. Instinktiv wollte sie Sheldon eine Warnung zurufen, aber ihre Reaktion kam viel zu spät. Jeremy sprang. Er federte ansatzlos vor, riß das Knie hoch und zielte nach Sheldons Gesicht, aber er hatte seinen Gegner unterschätzt. Sheldon wich mit einer spielerisch anmutenden Bewegung aus, ließ Cramers Fuß ins Leere treten und schlug dem FBI-Mann seinerseits wuchtig in die Kniekehlen. Cramer stolperte gegen die Wand, verlor das Gleichgewicht und fiel klirrend in einen Scherbenhaufen. Er rollte herum, sprang mit einem wütenden Knurren auf die Füße und ging erneut zum Angriff über.
Die Kette schnitt mit hellem Pfeifen durch die Luft. Sheldon sprang vor, drehte sich einmal um seine Achse und ließ die Stahlglieder mit vernichtender Wucht niedersausen. Cramer riß instinktiv die Arme hoch, um sein Gesicht zu schützen, aber die Kette durchbrach seine Deckung so mühelos, als wäre sie gar nicht vorhanden. Cramer wurde von den Füßen gerissen, herumgeschleudert und wuchtig gegen die Wand geworfen. Der Aufprall ließ den Boden erzittern.
Sheldon lachte schrill. »Darauf habe ich gewartet«, sagte er keuchend. »Du wolltest die Kette, nicht wahr? Hier hast du sie!« Er sprang abermals vor, riß die Kette hoch und ließ ihr Ende wie eine Peitsche nach Cramers Gesicht zucken. Der Schlag schmetterte Cramer erneut zu Boden, aber die erhoffte Wirkung blieb aus. Cramer knurrte, griff blitzschnell nach der Kette und brachte Sheldon mit einem harten Ruck aus dem Gleichgewicht. Sheldon stolperte, kämpfte mit wild rudernden Armen um seine Balance und fiel schließlich neben dem FBI-Direktor zu Boden. Cramer war mit einer blitzschnellen Bewegung über ihm.
Sheldon wehrte sich verzweifelt, doch trotz des immensen Unterschiedes in Gewicht und Muskeln hatte er keine Chance gegen seinen Gegner. Seine Fäuste hämmerten immer wieder zu, aber Cramer schien die Schläge gar nicht wahrzunehmen. Er lachte schrill, schlug Sheldons Arme zur Seite und nagelte sie mit den Knien am Boden fest. Seine fleischigen Hände legten sich wie Stahlklammern um Sheldons Hals. Der junge Mann bäumte sich verzweifelt auf und versuchte, seinen Gegner abzuschütteln, aber Jeremys übermenschlichen Kräften war er nicht gewachsen. Cramer hockte wie eine große, mißgestaltete Kröte auf seiner Brust. Sein Gesicht verzerrte sich.
»Jeremy! Hör auf!« kreischte Mary-Lou. »Bitte, hör auf! Du bringst ihn um!« Sie versuchte, ihren Mann von seinem hilflos strampelnden Opfer herunterzuziehen, aber genausogut hätte sie versuchen können, einen Felsblock mit bloßen Händen zu bewegen. Jeremy knurrte ärgerlich und versetzte ihr einen Stoß, der sie zurücktaumeln und gegen die Wand stürzen ließ. Sie sackte hilflos zu Boden und zerschnitt sich die Hand an einer großen, gezackten Spiegelscherbe. Der Schmerz trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie wimmerte, kam mühsam auf Hände und Knie und tastete blind über den Boden. Ihre Finger schlossen sich um etwas Spitzes, Scharfes. Ohne daß sie selbst genau wußte, was sie tat, nahm sie die Spiegelscherbe auf und wankte mühsam auf die beiden kämpfenden Männer zu.
Sheldon hatte aufgehört, sich zu wehren. Seine Beine zuckten hilflos, und sein Gesicht war blau angelaufen. »Jeremy ... bitte ... hör auf«, schluchzte Mary-Lou. Jeremy lachte nur boshaft, ein Lachen, das ihr zeigte, daß in ihm absolut nichts Menschliches mehr steckte. Sie schwang die dreieckige Scherbe wie einen Dolch, legte ihre ganze Kraft in den Stoß und rammte ihrem Mann die Scherbe in den Rücken.
Jeremy stieß einen schrillen Schrei aus. Er bäumte sich auf, fiel von Sheldons Körper herunter und wälzte sich über den Boden. Mit schmerzverzerrtem Gesicht versuchte er, an die Spiegelscherbe heranzukommen, die wie eine gläserne Pfeilspitze zwischen seinen Schulterblättern steckte, aber er schaffte es nicht. Eine unglaubliche Veränderung ging mit seinem Körper vor sich. Er wurde durchsichtig, schemenhaft und verschwommen - und verschwand.