Mary-Lou starrte fassungslos auf die Stelle, an der ihr Mann noch vor Sekundenbruchteilen gelegen hatte.
Irgendwo in den unergründlichen Tiefen des Spiegelkabinetts zerbrach in diesem Moment ein Spiegel. Ein hochgewachsener, untersetzter Mann fiel mit hilflos rudernden Armen vornüber aus dem Rahmen, schlug auf dem Boden auf und blieb einen Moment lang benommen liegen. Dann richtete er sich mühsam auf und begann mit schleppenden Schritten davonzugehen.
Das Haus sah aus, als hätte ein vollkommen wahnsinniger Architekt mit unglaublichen Hilfsmitteln seine Alpträume Gestalt annehmen lassen. Die ursprünglichen Umrisse des Gebäudes waren noch deutlich zu erkennen, aber die Konturen wirkten auf grauenhafte Art verzerrt und falsch.
Krank, dachte Vivian. Das Haus sah beinahe aus, als ... hätte es Krebs, als wäre es von Metastasen überwuchert, so verrückt der Gedanke auch anmuten mochte, aber ihr fiel kein besserer Vergleich ein. Die obersten vier Etagen schienen wie von einer ungeheuren Hand zusammengedrückt und verbogen zu sein. Die scheinbar massiven Betonwände waren zerdrückt, eingebeult, in bizarren Falten und Schlünden verformt, als bestünde das Haus aus Kunststoff oder Gummi, der in der Sonne warm geworden und zerlaufen war. Große, schwarzglänzende Tropfen waren an den Flanken des Gebäudes herabgelaufen und erstarrt. Die Fensterhöhlen erinnerten Vivian an aufgerissene, zahnlose Münder, aus denen ein stummer Schrei zu ihr herüberwehte.
Sie wandte sich ab, schloß die Augen und versuchte die Übelkeit zurückzudrängen, die der Anblick in ihr ausgelöst hatte, dann zwang sie sich, noch einmal hinzusehen. Die Veränderung war nicht nur auf dieses Haus beschränkt. Der ekelhafte Anblick hatte sie nur so in seinen Bann geschlagen, daß ihr die Gebäude rechts und links davon im ersten Moment normal vorgekommen waren, doch auch hier hatte die schleichende Veränderung schon begonnen. Dünne, glitzernde Schleimfäden wuchsen wie bizarre Spinnenbeine aus Fenstern und Türen. Die Gebäude wirkten irgendwie schief - die Winkel stimmten nicht mehr, und in den Schatten schien schleimiges, glitzerndes Leben zu lauern.
Vivian schluckte krampfhaft. In ihrem Mund war plötzlich ein säuerlicher, ekelhafter Geschmack. Sie legte den Kopf in den Nacken und sah zu den Silhouetten der Wolkenkratzer hinüber, die sich gegen den westlichen Horizont erhoben. Sie war noch zu weit entfernt, um die Einzelheiten erkennen zu können, aber die schwarzen Schatten der Riesenblocks wirkten irgendwie verzerrt und bedrohlich.
Ein Geräusch riß Vivian aus ihren Gedanken und ließ sie herumfahren. Es handelte sich um Schritte. Sie sah sich blitzschnell nach einer Deckung um und rannte dann auf den erstbesten Hauseingang zu. Die Tür war offen. Sie warf sich herum, preßte sich mit klopfendem Herzen gegen die Wand und starrte konzentriert in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war.
Es handelte sich wirklich um Schritte. Die Schritte von vier oder fünf Personen, schätzte Vivian. Sie klangen seltsam schleppend und mühsam. In der verlassenen Häuserschlucht nahm ihr Echo einen bedrohlichen Klang an.
Dann erschien die Gruppe auf der Straße. Es waren zwei Männer, zwei Frauen und ein vielleicht zwölfjähriges Mädchen. Die Menschen waren nach der Mode der späten fünfziger Jahre gekleidet. Ihre Bewegungen wirkten roboterhaft und starr. Die fünf erinnerten weniger an lebende Menschen, sondern kamen Vivian eher wie willenlose Marionetten vor, an deren Fäden ein unsichtbarer Puppenspieler zog. Als sie näher kamen, sah Vivian, daß ihre Gesichter ebenso starr und unbewegt waren. Die Augen waren glanzlos und matt, und das kaum merkliche Lächeln in ihren Mienen wirkte gefroren. Sie hatte also recht gehabt - der Mann draußen auf dem Highway war nicht das einzige Opfer Ulthars gewesen, das den Weg in die Spiegelwelt gefunden hatte.
Sie wartete, bis die Gruppe dicht an ihrem Versteck vorübergegangen war. Dann nahm sie all ihren Mut zusammen und trat auf die Straße.
»Hallo!« sagte sie. Ihre Stimme hallte klar und scheinbar überlaut durch die Stille. Selbst der Wind verstummte für einen Augenblick, um dann mit neuer Wut loszubrechen, und für einen Augenblick hatte sie den aberwitzigen Eindruck, als ob ein unhörbares, ärgerliches Seufzen durch die Welt ginge. Die fünf Menschen jedoch zeigten nicht die geringste Reaktion.
Vivian lief ärgerlich los und vertrat ihnen den Weg. Die Gruppe teilte sich und ging um sie herum, wie man um ein lebloses Hindernis herumging. Vivian fuhr herum, griff nach dem Mädchen und hielt es fest. »Bleibt doch wenigstens stehen!«
Ein harter Ruck ging durch ihre Hand, als die Kleine einfach weiterging. Vivian stieß einen wütenden Fluch aus und eilte hinter der Gruppe her. »Verdammt noch mal - hört ihr mich denn nicht?« Sie riß eine der Frauen grob an der Schulter und schüttelte sie. »Antworten Sie doch wenigstens!«
Die Frau blinzelte. Ein mißbilligender Ausdruck auf ihrem starren Puppengesicht, und für einen Augenblick sah es fast so aus, als wäre es Vivian gelungen, den Bann zu durchbrechen. Aber nur für einen Moment. Dann erstarrte das Gesicht wieder zu einem seelenlosen Marionettengrinsen. Die Frau hob die Hand, streifte Vivians Griff ab und drehte sich um, um dem Rest der Gruppe zu folgen.
Vivian starrte ihr entsetzt nach. Die Frau ging mit schnellen, weit ausgreifenden Schritten hinter den vier anderen her, nahm ihren Platz in der Gruppe wieder ein und verlangsamte dann ihr Tempo.
Plötzlich hatte Vivian das Bedürfnis, zu schreien. Endlich hatte sie Menschen gefunden, und nun gelang es ihr nicht, sich mit ihnen zu verständigen. Aber so leicht gab sie sich nicht geschlagen. Noch ein weiteres Mal versuchte sie, eine der Frauen anzusprechen, doch das Ergebnis war genauso niederschmetternd und deprimierend wie beim ersten Mal. Es schien, als wäre sie für diese Menschen einfach nicht vorhanden. Sie blieben kurz stehen und gingen dann um sie herum, wenn sie ihnen den Weg vertrat, aber ansonsten reagierten sie nicht auf sie.
Vivian beschloß, ihnen zu folgen. Diese Menschen bewegten sich so zielbewußt auf das Zentrum Manhattans zu, daß es schon kein Zufall mehr sein konnte. Vivian war immer sicherer, daß sie dort auch die anderen Opfer der Zauberspiegel treffen würde. Auch der Mann am Highway hatte sich in Richtung Stadtmitte bewegt. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, daß diese gigantische Spiegelwelt völlig ohne Sinn errichtet worden war. Die grauenhafte Veränderung ihrer Umwelt ging weiter, als sie sich dem Zentrum näherten. Kaum eines der Häuser, die die Straße zu beiden Seiten säumten, war noch normal. Selbst die Straße schien sich verändert zu haben - der Asphalt schien wellig, porös und verworfen; der Boden federte unter ihren Schritten, und manchmal schien eine unmerkliche, vibrierende Bewegung durch ihre Schuhsohlen zu dringen. Schwarze, schleimig glitzernde Fäden wuchsen aus Gullys, Hauseingängen und Fenstern, und der üble durchdringende Geruch, den sie schon vorher wahrgenommen hatte, wurde fast unerträglich.
Vivian blieb stehen, kramte ein Taschentuch hervor und band es sich provisorisch um Mund und Nase, aber selbst das half nicht viel. Der Gestank schien nicht nur mit dem Wind herangetragen zu werden, sondern von überall herzukommen, als ströme jedes Haus, jeder Stein und selbst jedes Luftmolekül den unerträglichen Geruch aus. Vivian spürte Übelkeit in sich aufsteigen.
Die Gruppe vor ihr beschleunigte ihre Schritte, und Vivian ging ebenfalls schneller. Sie hatte den fünf Spiegelwesen etwa eine halbe Meile Vorsprung gelassen, um nicht unvorbereitet in eine Falle zu tappen, aber sie mußte immer wieder gegen den Impuls ankämpfen, einfach loszustürmen und sich der Gruppe anzuschließen, nur um nicht mehr allein zu sein. Die Einsamkeit war unerträglich. Noch nie zuvor in ihrem Leben hatte Vivian so deutlich gespürt, was es hieß, wirklich allein zu sein. Sie hätte im Augenblick selbst die Gesellschaft eines Zeitungsreporters bereitwillig in Kauf genommen, und das wollte wirklich eine ganze Menge bedeuten.