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Langsam und mit gesenktem Kopf ging sie weiter. Der Anblick der verdrehten, deformierten Häuser schmerzte in ihren Augen, daß sie ihn nicht mehr ertragen konnte. Es war nicht allein das Aussehen der Gebäude. Irgend etwas Böses schien hinter den schwarzen Schleimmassen zu lauern, eine Art körperloser, kriechender Intelligenz, die wie eine gigantische Spinne in ihrem Netz hockte und darauf wartete, daß ihre Opfer in die Falle gingen.

Nach einer Weile begann es zu regnen; feiner, nieselnder Regen, der in Schwaden wie Nebel durch die Straßen trieb, Häuser und Menschen mit klammer Feuchtigkeit durchtränkte und sich als glitzernde Schicht auf Fensterscheiben und Dächern festsetzte. Vivian schlug den Kragen ihrer von Sheldon geborgten Lederjacke hoch und verbarg die Hände in den Taschen. Es wurde zunehmend kälter. Mit jedem Schritt, den sie tiefer in die Stadt eindrang, schienen die Strahlen der Sonne an Kraft zu verlieren. Der Regen wurde kalt, dann eisig. Dünne, schleimige Rinnsale sammelten sich in Regenrinnen. Auf den Bürger steigen erschienen ölig glänzende Pfützen. Vivian zog angeekelt die Schultern zusammen und ging dicht an der Hauswand entlang weiter. Ihre Schuhe erzeugten seltsam saugende Geräusche auf dem nassen Asphalt. Der Regen schien nicht mehr aus Wasser, sondern aus einer unbestimmbaren, klebrigen Flüssigkeit zu bestehen.

Die Spiegelwesen bogen in eine Seitenstraße ein. Vivian zögerte einen Herzschlag lang, zuckte dann ergeben mit den Achseln und trat in den strömenden Regen hinaus, um die Straße zu überqueren. Sie konnte die Ausstrahlung des Fremdartigen jetzt deutlich spüren.

Ihr Blick fiel auf die dunklen Silhouetten der Hochhäuser im Stadtzentrum. Die schwarzen, verformten Kolosse, die sich dort gegen den Himmel erhoben, hatten kaum noch etwas mit den Häusern gemeinsam, die sie von Manhattan her kannte.

Als sie die Straße erreicht hatte, in der die Spiegelbilder verschwunden waren, durchschnitt ein gellender Schrei die Luft. Vivian blieb so abrupt stehen, als wäre sie vor eine unsichtbare Wand gelaufen. Es war ein grauenhafter, krächzender Aufschrei, ein grelles Kreischen in einer Tonlage, die Vivian erschauern ließ. Der Schrei schwang sich in ungeheure, fast in den Ohren schmerzende Höhen hinauf, hallte zwischen den steinernen Wänden der Häuserschlucht wider und brach dann mit der gleichen Plötzlichkeit ab, mit der er begonnen hatte.

Vivian nahm zögernd die Hände von den Ohren. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt. Ihre Hände zitterten. Plötzlich hatte sie Angst davor, weiterzugehen. Sie preßte sich eng gegen die Wand und lugte um die Ecke.

Der Anblick ließ sie aufstöhnen.

Außer den fünf Personen, denen sie hierher gefolgt war, befand sich noch eine ganze Anzahl weiterer Spiegelwesen auf der engen Straße. Aber nicht nur sie.

Rechts und links der schweigenden Prozession bewegten sich seltsame, geschuppte Gestalten, Monstren, wie Vivian sie noch nie zuvor gesehen hatte. Sie schloß die Augen und versuchte sich abzuwenden, aber der Anblick dieser lebenden Scheußlichkeiten hatte sich bereits tief in ihr Bewußtsein gebrannt. Die Wesen waren mehr als zwei Meter groß. Sie erinnerten vage an die Echsenwesen, die sie in der realen Welt auf Coney Island gesehen hatte, aber die Ähnlichkeit endete damit, daß auch sie eine geschuppte Haut besaßen, wenngleich es sich nicht um grünliche, sondern um braune Panzerschuppen handelte. Sie waren stämmiger, gedrungener als die Echsen, Titanen mit Schultern, die doppelt so breit wie die eines normalen Menschen waren, und langen, muskulösen und biegsamen Armen, die in fürchterlichen Krallenhänden endeten. Spitze, gut zwanzig Zentimeter lange Dornen wuchsen aus Knie- und Ellenbogengelenken. Ihre Köpfe schienen nur aus Horn zu bestehen - bizarre Gebilde aus scheinbar planlos wucherndem Gewebe, das in zahllosen Stacheln und Schneiden endete. Die Gesichter waren Kraterlandschaften aus Rissen und Schrunden, in denen zwei kleine boshafte Augen ohne Pupillen funkelten. Ihre Gebisse hätten jeden Mörderwal vor Neid erblassen lassen, aber das war noch lange nicht das schlimmste.

Schwarze, schleimig glitzernde Fäden, die von eigenständigem, zuckendem Leben erfüllt zu sein schienen, überzogen die Schuppenhaut der Ungeheuer. Vivian hatte nur einen winzigen Augenblick lang hingesehen, aber sie hatte trotzdem bemerkt, daß dieses Fadengeflecht nicht nur auf der Körperoberfläche der Wesen zu finden war. Fühler der ekelhaften, an bloßgelegte Nerven erinnernden Substanz wuchsen aus Nase, Mund und Ohren der Kreaturen.

Sie kämpfte die aufkommende Übelkeit nieder und zwang sich, die Gruppe noch einmal anzusehen. Die Prozession war mittlerweile weitergezogen. Offensichtlich hatte man nur noch auf das Eintreffen der fünf Wesen gewartet, denen Vivian hierher gefolgt war. Die Spiegelwesen bewegten sich zwischen den richtigen Wächtern, mit Bewegungen, die mehr noch als zuvor denen von willenlosen Marionetten glichen. Vivian sah, daß die Echsenwesen lange, gefährlich aussehende Peitschen in den Händen trugen, aber sie schienen nur zur Abschreckung zu dienen. Keines der Spiegelwesen machte auch nur den Versuch, aus der Doppelreihe auszubrechen.

Sie wartete, bis die Gruppe um die nächste Biegung verschwunden war, ehe sie sich von der Wand abstieß und geduckt hinterher schlich.

21

Der Vorhang bestand aus rotem, schwerem Samt. Eine kleine goldene Spange, die mit komplizierten Gravuren versehen war, verband die beiden Hälften miteinander und verwehrte den Blick auf das, was dahinter lag.

Bis auf den Vorhang war der Raum vollkommen leer.

Mildes, gelbes Licht kam aus einer unsichtbaren Quelle, und durch die dünnen Wände drang unverständliches Stimmengemurmel, unterlegt mit den zahlreichen, nicht einzeln wahrzunehmenden Geräuschen, wie eine größere Menschenmenge sie verursacht.

Zwischen Ulthars Brauen erschien eine steile, tiefe Falte. Auf seinem Gesicht lag ein besorgter Ausdruck, und seine Bewegungen wirkten fahrig. Er war nervös. Die Ereignisse hatten sich in letzter Zeit nicht nur nach seinen Vorstellungen entwickelt. Die Mächte, die hinter ihm standen, schätzten es nicht, wenn ihre Befehle nicht zu ihrer vollen Zufriedenheit ausgeführt wurden.

Der Vorhang schien sich merklich zu bewegen. Es klirrte leise, als die beiden Teile des goldenen Verschlusses aneinanderschlugen, und in den schweren roten Samtfalten schienen geheimnisvolle Schattenwesen zum Leben zu erwachen. Der Magier trat zögernd an den Vorhang heran. Seine Finger berührten die goldene Schnalle. Seine Lippen formten leise, unverständliche Worte in einer Sprache, deren Sinn er selbst nicht verstand. Der Verschluß löste sich. Die beiden Hälften des Samtvorhangs glitten wie von Geisterhand bewegt auseinander.

Dahinter lag ein riesiger, konkav gebogener Spiegel.

Ulthar blickte endlos lange auf das, was darin abgebildet war. Er spürte den Fluß dunkler, böser Kraft, der aus dem Zentrum des Spiegels zu ihm hinüber strömte. Eine Energie, die so fremdartig und böse war, daß sie selbst ihn noch manchmal erschreckte. Nach einer Ewigkeit schloß er den Vorhang wieder.

»Melissa!« brüllte er. Schritte näherten sich, dann wurde die Tür lautlos auf gestoßen.

»Sie haben mich gerufen, Meister?«

Ulthar lächelte dünn. »Hast du diese Kreatur getötet?« fragte er.

Melissa lächelte und nickte knapp. »Sie ist tot, wie ihr es befohlen habt, Herr.« Ihre Stimme klang starr. Da der Körper, in dem er Melissa zuletzt gekannt hatte, unwiederbringlich zerstört war und sie in Vivians Körper lebte, gehörte auch die Stimme Missis Taylor, aber sie hörte sich an wie eine schlechte Kopie. Irgend etwas fehlte, ein wichtiger, nicht näher zu bestimmender Teil. Ihr Bewußtsein war nicht einfach nur in Vivian Taylors Körper eingesperrt gewesen, sondern innerhalb dieses Vierteljahrhunderts viel stärker mit dem Vivians verschmolzen, als er geglaubt hatte. Jede der beiden Frauen besaß eine eigene Persönlichkeit - Melissa vielleicht etwas mehr als ihre Gegnerin, weil sie unterdrückt worden war und sich weitgehend abgekapselt hatte -, aber erst beide zusammen bildeten den Charakter Vivian Taylors. Und auch Melissa konnte nicht wirklich leben ohne den Teil ihres Charakters, der mit Vivian Taylor verschmolzen war. Die Bewußtseinsspaltung war nicht wie geplant verlaufen, und was er erschaffen hatte, war nicht mehr als die seelenlose Kopie Melissas.