Solange Vivian nicht so wie die Seelen der anderen Sklaven zu einer Gefangenen der Spiegel geworden war, blieb Melissa unvollkommen. Etwas fehlte. Initiative, Entschlußkraft und all die tausend anderen kleinen Dinge, die aus einem Menschen erst einen Menschen machten. Sie besaß noch weniger eigene Persönlichkeit als seine anderen Spiegelsklaven. Melissa war im Grunde nicht mehr als ein lebender Roboter, der seinen Befehlen gehorchte, aber nicht zu eigenen Entscheidungen fähig war. Sie war nicht die Frau, die er einmal geliebt hatte und nach der er so lange gesucht hatte.
Ulthar verspürte ein leises Gefühl der Beunruhigung, als er an die ungeheuren Kräfte dachte, die diese so zerbrechlich wirkende Frau entfesseln konnte, denn er war sich auch der Gefahr bewußt, die in ihrem gegenwärtigen Zustand lag. Sie besaß schon jetzt wieder ihre frühere Macht, nicht aber ihr Wissen, ihre Erinnerungen, und vor allem war sie unfähig, auch nur die geringste Verantwortung für ihr Handeln zu tragen. Er mußte sich praktisch jedes Wort, das er in Melissas Gegenwart sprach, zehnmal überlegen. Das Spiegelwesen würde jeden Befehl wortwörtlich ausführen - ganz egal, welchen Schaden es dabei vielleicht anrichtete.
»Sie war viel stärker als Conellys andere Kreaturen. Wenn er eine von ihnen erschaffen konnte, wird es ihm auch bei weiteren gelingen. Die Schonzeit für ihn ist vorbei. Wir werden ihn töten, bevor er uns noch einmal gefährlich werden kann.«
»Das ist nicht mehr nötig, Herr«, entgegnete Melissa. »Er ist bereits tot.« Sie sprach auch jetzt mit völlig gleichgültiger Stimme. »Wir haben seinen Leichnam gefunden, hier im Labyrinth. Es scheint, als hätte Vivian Taylor ihn umgebracht.«
»Vivian?« keuchte Ulthar aufgeregt. »Was ist mir ihr?«
»Es hat eine starke Erschütterung des Labyrinths gegeben.« Melissa stockte kurz. »Es deutet alles darauf hin, als wäre sie durch die Spiegel gegangen. Hinüber auf die andere Seite.«
Ulthar fuhr zusammen. »Die andere ...« Er stieß ein ersticktes Stöhnen aus. »Wir müssen sie zurückholen. Wenn sie die Kristallfestung erreicht ...« Er straffte sich. »Hole Mark her. Sofort.«
Melissa verließ den Raum und kehrte wenig später mit dem Spiegelbild Mark Taylors zurück.
»Vivian ist entkommen«, berichtete Ulthar noch einmal. »Aber ich weiß, wo sie ist.« Ein häßliches Lächeln überzog sein Gesicht. »Sie sitzt in der Falle. Es gibt von dort, wo sie ist, kein Entkommen. Sie ist auf der anderen Seite.«
Mark runzelte die Stirn. »Sie meinen ...«
»Auf der Spiegelwelt.« Ulthar nickte. »Ganz recht. Dort drüben ist sie hilflos, sie hat keine Chance. Wir brauchen sie nur noch aufzusammeln. Und diesmal werden wir dafür sorgen, daß sie uns nicht noch einmal entwischt. Wir können uns keine Fehler mehr leisten.«
Mark Taylor bewegte sich unruhig. Er spürte die Nervosität, die hinter Ulthars scheinbar ruhig ausgesprochenen Worten lauerte. Der Magier hatte Angst. Das Spiegelwesen fragte sich unwillkürlich, wovor ein Mensch mit Ulthars Macht Angst haben mochte.
»Du wirst ein paar Männer auf die andere Seite schicken, um Vivian zu fangen«, befahl Ulthar nach einer Pause. »Aber suche zuverlässige Leute aus. Wir haben nicht mehr viel Zeit.«
Mark nickte. »Ich werde selbst gehen. Wenn Sie erlauben, nehme ich Melissa mit.«
Der Magier schüttelte hastig den Kopf. »Nein, auf keinen Fall. Ich brauche sie hier.« Er fuhr ruckartig herum, biß sich auf die Lippe und ballte die Faust. Sein Blick hing wie hypnotisiert an den Falten des Samtvorhangs. Wieder hatte er den Eindruck, daß der Stoff sich bewegte. Etwas ungeheuer Fremdes schien für Augenblicke in den Raum zu greifen und sich dann wieder zurückzuziehen.
»Beeil dich«, sagte er leise, ohne sich umzudrehen. »Schick die Männer los. Uns bleibt nicht viel Zeit.«
Die Luft zwischen zwei der Häuser begann unmerklich zu flimmern. Ein großer, rechteckiger Umriß schien sich dicht über dem Boden materialisieren zu wollen. Er flackerte, wurde fester, verlor dann wieder an Substanz und wurde zu einer nebelhaften, kaum sichtbaren Erscheinung. Der Prozeß wiederholte sich, und diesmal stabilisierte sich der Umriß. Ein großes, an eine Tür erinnerndes Rechteck erschien mitten in der Gasse.
Eine Tür in eine andere Welt.
Nacheinander erschienen vier, fünf hochgewachsene Gestalten in der Öffnung, traten zögernd auf die Straße hinaus und blieben stehen.
Dann erlosch das Tor hinter ihnen von einem Augenblick zum anderen.
Mark Taylor sah sich vorsichtig um. Die Straßen schienen leer und verlassen zu sein, aber er spürte, daß er und seine Begleiter nicht allein waren. Irgendeine körperlose Bedrohung lauerte hier, die sie aus tausend unsichtbaren Augen zu mustern schien.
»Beeilen wir uns«, sagte er. Seine Stimme klang seltsam schrill und krächzend. »Diese Richtung.« Er wies mit einer vagen Geste in Richtung Stadtmitte. »Sie kann noch nicht weit sein. Je eher wir sie fangen, desto besser.«
Sie setzten sich in Bewegung. Ihre Schritte klangen seltsam hart und auf dem nassen Asphalt, überlaut in der hier herrschenden Stille. Mark bemerkte, wie Masterton unwillkürlich vorsichtiger auftrat, als befürchte er, durch das Geräusch seiner Schritte eine schlafende Bedrohung aufzuwecken. Wahrscheinlich verspürte er das gleiche, unsichere Gefühl wie Mark. Wahrscheinlich spürten sie es alle.
Mark hatte Masterton bewußt ausgewählt. Andere von Ulthars Geschöpfen mochten jünger und kräftiger sein, aber Masterton kannte er im Gegensatz zu ihnen, und vielleicht würde sich das inmitten dieser vollkommen fremden Welt als wichtig erweisen.
Mark starrte aus zusammengekniffenen Augen zu den Silhouetten der Stadt hinüber. Ulthar hatte ihn gewarnt. Sie bewegten sich in einer Umgebung, die sich völlig von allem unterschied, was Menschen je kennengelernt hatten. Die scheinbare Ähnlichkeit täuschte - dieses New York war eine spiegelverkehrte Ausgabe des echten New York, eine Stadt, die genauso rustikal und kompromißlos ins Gegenteil verkehrt worden war wie Mark, Masterton und die anderen. Hinter den scheinbar vertrauten Umrissen lauerte ein Grauen, das in seiner Gesamtheit menschliches Vorstellungsvermögen überstieg.
Mark spürte, wie die seltsame Ausstrahlung, die er gleich bei seiner Ankunft bemerkt hatte, etwas in ihm in Bewegung zu bringen schien. Das Gefühl war nicht in Worte zu kleiden. Er sah sich nervös um.
»Irgend etwas ...« begann Masterton zögernd, »stimmt hier nicht.«
Mark nickte impulsiv. Masterton spürte es also auch. »Ich glaube, Ulthar hat uns etwas verschwiegen«, murmelte er. Er erschrak über seine eigenen Worte oder vielmehr über die Gedanken, denen sie entsprangen. Jeder Zweifel an Ulthars Befehlen wäre ihm noch vor wenigen Minuten völlig unmöglich gewesen. Er bemerkte, daß Masterton ihn überrascht ansah, und runzelte ärgerlich die Stirn. »Gehen wir weiter«, sagt er barsch. »Wir haben nicht viel Zeit.«
Aber er spürte, wie die nagenden Zweifel wuchsen, während sie langsam tiefer in die Stadt eindrangen. Und langsam, ganz langsam machte sich in ihm die Überzeugung breit, daß Ulthar einen verhängnisvollen Fehler begangen hatte, sie hierher zu schicken.
Je tiefer Vivian ins Zentrum der Stadt vordrang, desto weniger waren die Häuser noch als Produkte menschlicher Technik zu erkennen. Die Gebilde, die die Straßen rechts und links säumten, ähnelten riesigen Schleimbergen, in denen nur noch dann und wann Andeutungen der ehemaligen Fenster und Türen zu erkennen waren: Große, unregelmäßig geformte Löcher, die Vivian an aufgerissene Münder erinnerten. Schwarze Fäden verbanden die Häuser miteinander und überzogen die Straße mit einem Spinnennetz klebriger Substanz. Zwischen den Fäden tauchten jetzt immer wieder Tümpel einer schwarzen, öligen Flüssigkeit auf, wo sich der Straßenbelag bereits vollkommen verwandelt hatte. Die Tümpel schienen von eigenständigem Leben erfüllt zu sein; Luftblasen stiegen an die Oberfläche, platzten mit peitschenähnlichem Knall und entließen Schwaden eines blauen, übelriechenden Gases, und einmal glaubte Vivian einen unbeschreiblich häßlichen Kopf aus der öligen Brühe auftauchen zu sehen, aber das war wohl nur Einbildung gewesen, denn als sie genauer hinsah, war davon nichts mehr zu entdecken.