Es fiel ihr mittlerweile immer schwerer, die eingeschlagene Richtung beizubehalten. Die finstere, abstoßende Ausstrahlung wurde beständig stärker. Es war, als bewege sie sich immer tiefer in einen unsichtbaren Nebel hinein, einen Nebel, der jeden Funken Menschlichkeit, Mitleid und Güte in ihr zu ersticken drohte.
Die Prozession der Spiegelwesen war verschwunden, aber sie hörte deutlich die Geräusche, die die Gefangenen und ihre Bewacher verursachten. Ab und zu wehte der Wind den Knall einer Peitsche zu ihr hinüber, und die Stille dazwischen wurde immer wieder von den krächzenden, grauenerregenden Schreien der Hornköpfigen zerschnitten.
Vivian bewegte sich vorsichtig über die Straße. Der Regen hatte aufgehört, aber dafür war es noch kälter geworden. Ein seltsames Halbdunkel lag über der Szene. Sie blieb stehen, legte den Kopf in den Nacken und blinzelte zur Sonne empor. Selbst sie wirkte verändert: Ein matter, verschwommener Kreis gelblicher Helligkeit, der kaum die Kraft zu haben schien, die Dämmerung ringsum aufzuhellen.
Vivian fuhr unwillkürlich zusammen, als sie die Schritte hörte. Das Geräusch war hinter ihr, und es waren nicht die monotonen, roboterhaften Schritte der Spiegelwesen, sondern schnelle, hastende Geräusche. Geräusche, wie sie vier oder fünf Menschen verursachen mochten, die sich schnell aber vorsichtig über die Straßen bewegten. Vivian sah sich gehetzt nach einer Deckung um. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand sich ein Gebäude, das noch nicht vollkommen verändert war. Die oberen Stockwerke bildeten die gleiche, amorphe Masse wie überall, aber das Erdgeschoß und die erste Etage schienen einigermaßen unverändert.
Sie stieß sich von der Wand ab, hetzte über die Straße und warf sich durch die offenstehende Eingangstür.
Beinahe wäre es ihr letzter Schritt geworden.
Hinter der Tür befand sich ein keilförmiger Streifen Parkettfußboden, der in fünf oder sechs Metern Entfernung in ein einzeln dastehendes Wandstück überging.
Rechts und links davon aber war - nichts.
Vivian prallte entsetzt zurück, verlor das Gleichgewicht und rutschte über die Kante des Bodenstückes. Für eine endlose Sekunde schien ihr Körper reglos in der Luft zu hängen, ehe sie sich mit einer verzweifelten Drehung herumwarf und zu Boden stürzte. Ihre Beine pendelten über dem Abgrund. Einen Augenblick lang blieb sie schwer atmend liegen. Aus der unergründlichen Tiefe hinter ihr schlug ihr eine ungeheure Kälte entgegen. Mit vorsichtigen Bewegungen zog sie sich ganz auf den festen Boden hinauf und kroch auf allen vieren bis zur Rückwand.
Sie mußte plötzlich wieder an das unerklärliche Erlebnis denken, das sie vor ein paar Stunden gehabt hatte. Auch in dem leerstehenden Schuppen auf dem Rummelplatz, in dem sie sich hatte verstecken wollen, hatte der feste Boden unmittelbar hinter dem Eingang aufgehört. Vivian versuchte, eine Erklärung zu finden, aber es gelang ihr nicht. Die seltsame, symmetrische Keilform, in der Boden und Wand erhalten waren, erinnerte sie an den Lichtkegel, der beim Öffnen einer Tür in einen dunklen Raum fiel.
Natürlich - das war die Erklärung. Nur was erleuchtet wurde, konnte gespiegelt werden, und schließlich war diese ganze Welt nur ein gespiegeltes Abbild der Realität. Das Stück Boden und Wand, auf dem sie sich befand, stellte den Abschnitt dar, der vielleicht irgendwann einmal im Spiegel eines vorüberfahrenden Wagens erschienen war. Wenn sie den Gedanken in letzter Konsequenz weiterspann, bedeutete dies, daß sie wahrscheinlich überall in der Spiegelwelt nur Dinge finden würde, die irgendwann einmal in einem Spiegel erschienen waren. Alles andere war einfach nicht da, so absurd der Gedanke auch anmutete. Vermutlich würde sie hinter vielen Türen buchstäblich nichts finden.
Die Schritte draußen kamen näher, und das Geräusch riß Vivian in die Wirklichkeit zurück. Sie kroch vorsichtig auf den Eingang zu, griff über die Kante des Bodenstückes hinaus und langte nach der Tür. Mit Quietschen, das ihr überlaut vorkam, schwang die Tür zu. Vivian richtete sich behutsam auf, klammerte sich am Türgriff fest und überzeugte sich davon, daß ihre Füße auf dem glatten Parkett sicheren Halt fanden. Der Ausschnitt der Wirklichkeit war hier an der Tür kaum einen Meter breit. Eine falsche Bewegung, und sie würde hilflos in die Tiefe stürzen. Der Gedanke, ins Nichts zu stürzen, endlos zu fallen, ohne jemals irgendwo anzukommen, ließ sie erschaudern.
Sie lugte vorsichtig durch den Türspalt nach draußen. Am Ende der Straße erschien eine Gestalt, dann noch eine ... drei ... vier, schließlich fünf Männer. Drei von ihnen waren seltsam altertümlich gekleidet, als wären sie aus einem Kostümfilm der frühen fünfziger Jahre entsprungen, die anderen beiden ...
Vivian unterdrückte im letzten Augenblick den Impuls, die Tür aufzureißen und auf die Straße hinauszustürzen. Die beiden anderen Männer waren Jonathan Masterton und Mark.
Aber sie wußte, daß es nicht der Mark war, den sie kannte. Wieder spürte Vivian diese seltsame, verzweifelte Trauer in sich aufsteigen. Obwohl sie genau wußte, daß dieser Mann dort vorne nur ein Ulthar sklavisch ergebenes Spiegelbild war, in dem aber alle negativen Eigenschaften Marks die Oberhand gewonnen hatte, drängte alles in ihr danach, hinauszulaufen und sich an seine Brust zu werfen.
Ulthar hatte also ihre Spur aufgenommen. Und er hatte den einzigen Jäger auf sie angesetzt, vor dem sich Vivian wirklich fürchtete.
Den Mann, den sie liebte.
22
Direkt vor ihnen machte der Gang eine scharfe Biegung, ohne daß Mary-Lou erkennen konnte, was dahinter lag. Obwohl es eine wissenschaftliche Unmöglichkeit war, waren die Spiegel so angeordnet, daß sie immer nur ihr eigenes und Sheldon Porters Spiegelbild zurückwarfen, ganz egal, aus welchem Blickwinkel sie sie betrachteten. Mary-Lou blieb stehen. »Ich ... ich kann nicht mehr«, stieß sie mit zitternder Stimme hervor. Längst schon hatte sie jedes Zeitgefühl verloren. Sie hatte das Gefühl, seit Stunden und Tagen durch das Spiegellabyrinth zu irren. Aber vielleicht waren es auch erst wenige Minuten. »Ich halte das alles einfach nicht mehr aus. Sie sollten ... allein weitergehen, ohne mich.«
Sheldon schüttelte wortlos den Kopf. Er hatte seit dem Kampf mit Cramer kaum eine Silbe von sich gegeben. Sein Selbstbewußtsein schien einen ziemlichen Sprung bekommen zu haben. Er hatte auch aufgehört, Spiegel zu zerschlagen. Im nachhinein mußte sich Mary-Lou eingestehen, daß die Idee sowieso nicht gut gewesen war. Es wäre ziemlich naiv gewesen, im Ernst anzunehmen, daß Ulthar tatenlos zusehen würde, wie sie sein Labyrinth Stück für Stück zerstörten.
»Bitte, Sheldon, versuchen Sie, wenigstens ihr eigenes Leben zu retten«, drängte sie und griff nach seinem Arm. »Allein haben Sie die größere Chance, als wenn Sie sich um mich kümmern. Ich bin ja doch bloß eine Last für Sie.«
Sheldon schaute sie an. »Und was soll aus Ihnen werden?« fragte er.
Mary-Lou zuckte mit den Achseln und senkte den Blick. »Lassen Sie mich einfach hier zurück«, murmelte sie. »Es hat ja doch alles keinen Sinn. Wir sind verloren, und das wissen Sie so gut wie ich. Wir machen uns nur etwas vor. Wir werden so oder so sterben. Irgend jemand wird mich hier finden, und dann ist wenigstens alles vorbei. Vielleicht habe ich es ja auch verdient.«