Sie sah angeekelt auf ihre Hände hinunter. Sie hatte gemordet. Einen Menschen ermordet, mit ihren eigenen Händen.
»Unsinn«, erwiderte Sheldon gröber, als er wollte. »Sie machen sie nur dadurch selbst etwas vor, daß Sie sich Schuldgefühle einreden. Sie hatten keine andere Wahl. Er hätte uns sonst beide umgebracht.«
Mary-Lou nickte verkrampft. »Ich ... weiß«, sagte sie stockend. Sie ließ die Arme sinken, lehnte sich gegen die Wand und sah Sheldon unsicher an. »Ich ... ich versuche immer wieder, mir einzureden, daß dieses Wesen kein Mensch war, aber ...«
»Ich weiß, was Sie meinen.« Sheldon nickte. »Er sah aus wie Ihr Mann. Aber er war es nicht. Es war nur eine rein äußerliche Ähnlichkeit. Diese ... diese Kreatur lebte nicht einmal. Sie umzubringen war kein Mord. Vielleicht war es sogar eine Erlösung für Ihren Mann.« Er sprach mit ruhiger sanfter Stimme, als würde er mit einem Kind reden. Die Rolle des Beschützers war noch ungewohnt für ihn, aber sie fiel ihm leichter, als er erwartet hatte. Zu einem beträchtlichen Teil bezog er sogar seine eigene Kraft aus Mary-Lous Schwäche, daraus, daß er nicht nur für sich selbst, sondern auch für sie die Verantwortung trug. Ansonsten hätte er vielleicht ebenfalls schon längst resigniert. Noch vor zwei Tagen hatte er für Menschen wie Mary-Lou Cramer nur Verachtung, manchmal sogar Haßempfinden, aber jetzt rührte ihn ihre Angst und Hilflosigkeit.
»Ich weiß«, wiederholte Mary-Lou. Ihre Stimme zitterte merklich. »Ich weiß, daß es nicht Jeremy war, aber ... Er hat geredet und gehandelt, also muß er doch irgendwie leben und ...« Sie brach ab und unterdrückte ein Schluchzen.
Sheldon berührte sie sanft an der Schulter. »Ich verstehe Sie nur zu gut, Mary-Lou«, sagte er leise. Die Spiegel schienen seine Worte zu reflektieren und ihnen einen boshaften, höhnischen Klang zu verleihen. Er legte seinen Arm um ihre Schulter und zog sie an sich. Im ersten Moment versuchte Mary-Lou, sich zu wehren, aber Sheldon drückte ihre Hände mit sanfter Gewalt beiseite. Die Berührung tat ihr gut. Sie gab ihren Widerstand auf, ließ sich an seine Brust sinken und weinte hemmungslos.
»Ob er ... tot ist?« fragte sie nach einer Weile. »Der echte Jeremy, meine ich?«
Sheldon antwortete nicht, aber sie spürte, wie er sich unmerklich versteifte.
»Antworten Sie mir, Sheldon. Glauben Sie, daß ...«
Sheldon machte eine hastige Handbewegung. »Still!« Er ließ sie los, trat einen Schritt zurück und lauschte mit geschlossenen Augen.
Mary-Lou sah ihn verwirrt an. »Was ist los?«
Sheldon schüttelte ärgerlich den Kopf und legte den Finger auf die Lippen. »Ruhig«, flüsterte er. »Es kommt jemand. Ich höre Schritte.« Er wich zur gegenüberliegenden Wand zurück, preßte sich dagegen und griff unter seine Jacke. In seiner Hand lag eine schimmernde, messerscharfe Spiegelscherbe, als er sie wieder hervorzog. »Versuchen Sie ihn abzulenken«, zischte Sheldon.
Mary-Lou nickte automatisch. Sie hörte die Schritte jetzt auch; schwere, schleppende Schritte, als bewege sich jemand mit äußerster Mühe auf sie zu. Ihr Herz begann zu rasen. Sie sah die Angst auf ihrem eigenen Gesicht, als sie ihr Spiegelbild auf der gegenüberliegenden Wand betrachtete. Von der schlanken, auch im Alter von zweiundvierzig Jahren noch schönen Frau, die sie noch gestern gewesen war, war nicht viel übriggeblieben. Die Frau dort im Spiegel schien eine andere zu sein. Ihr dunkles, gepflegtes Haar hing in schweißverklebten Strähnen herab. Ihr Gesicht wirkte grau und eingefallen, und um ihre Mundwinkel lag ein bitterer, harter Zug, den sie noch nie an sich bemerkt hatte.
Die Schritte kamen näher. Sie konnte jetzt die Atemzüge des Mannes hören. Er schien stehenzubleiben, murmelte etwas und ging dann weiter. Ein leises, schleifendes Geräusch begleitete seine Schritte, so, als taste er sich mühsam mit der Hand an den spiegelverkleideten Wänden entlang.
Und dann geschah alles unglaublich schnell.
Der Mann erschien in der Gangbiegung. Mary-Lous entsetzter Aufschrei ging in Sheldons wütendem Brüllen unter, als er die Spiegelscherbe wie einen Dolch schwang und sich auf den Fremden stürzte.
»Sheldon! Nicht!«
Sheldon versuchte im letzten Augenblick, seinen Stoß abzuwenden. Die Scherbe verfehlte das Gesicht des Mannes um Millimeter, schrammte an dessen Schulter entlang und schlitzte den linken Jackenärmel auf. Sheldon taumelte vorwärts und verlor, von seinem eigenen Schwung mitgerissen, das Gleichgewicht, während Jeremy Cramer mit einem überraschten Schmerzlaut zurückwich und seinen verletzten Arm umklammerte.
»Was, zum Teufel, ist ...« Jeremys Augen weiteten sich ungläubig, als er seine Frau erkannte. »Mary-Lou! Wie - wie kommst du hierher?«
Mary-Lous Stimme versagte ihren Dienst. Sie sank an die Wand zurück, kämpfte gegen die Tränen und schlug die Hände vors Gesicht. Sie wußte selbst nicht, wie es ihr gelungen war, gerade noch rechtzeitig die Warnung auszustoßen. Im ersten Augenblick, als sie Jeremy gesehen hatte, hatte sie ihn für ein weiteres Spiegelbild gehalten und vor Schreck aufschreien wollen, doch irgend etwas an seiner Haltung, seinem Gesichtsausdruck oder seinem Blick hatte sie erkennen lassen, daß das nicht stimmte, daß es sich um den echten Jeremy Cramer handelte. Das Entsetzen darüber, wie knapp alles gewesen war, schnürte ihr die Kehle zu.
Sheldon richtete sich ungeschickt auf. Sein Blick wanderte immer wieder von Mary-Lou zu Jeremy. Augenscheinlich wußte er nicht so recht, was er von der Situation halten sollte.
Cramer seinerseits musterte ihn mit einer Mischung aus Vorsicht und Neugier. Ein dünner Blutfaden sickerte aus seiner zerschnittenen Jacke, aber er schien den Schmerz gar nicht zu spüren, so wenig, wie er sich bewußt zu sein schien, wie knapp er dem Tod entkommen war. Oder aber er verstand seinen Schrecken meisterhaft zu verbergen. »Wer sind Sie?« fragte er. »Und wie kommen Sie hierher? Sie und meine Frau?«
Sheldon lächelte kalt. Er schien entspannt dazustehen, aber seine Finger umklammerten noch immer die Scherbe. Seine gelöste Haltung täuschte. Innerlich war Sheldon gespannt wie eine Stahlfeder und jederzeit bereit, beim geringsten Anzeichen von Gefahr nachzuholen, wovon Mary-Lous Zuruf ihn abgehalten hatte. »Mich würde vielmehr die Frage interessieren, wie Sie hierherkommen«, konterte er lauernd.
»Sheldon - nicht. Er ist ...« Mary-Lou schluckte krampfhaft. Man spürte, daß ihr die Worte eine ungeheure Überwindung abverlangten. »Das ist Jeremy, der echte Jeremy. Mein ... mein Mann.«
Sheldon zögerte. »Sind Sie ... sind Sie völlig sicher, daß er echt ist?« fragte er.
»Natürlich bin ich echt«, stieß Cramer hervor. Er strich über seine Schulterwunde und hielt Jeremy den Finger mit einigen Blutstropfen daran entgegen. »Sieht das vielleicht wie Ketchup aus?«
Sheldon atmete tief ein. »Ich ... es tut mir leid, wenn ich Sie verletzt habe. Aber ich dachte ...«
Cramer nickte. »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Ich kann mir lebhaft vorstellen, was Ihnen passiert ist.« Er musterte Sheldons zerschlagenes, geschwollenes Gesicht. »Sie scheinen so ungefähr das gleiche wie ich erlebt zu haben.«
»Das gleiche ist gut«, entgegnete Sheldon. »Ich hatte eine kleine Meinungsverschiedenheit mit einem Spiegelbild. Mit Ihrem Spiegelbild.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf Mary-Lou. »Wenn Ihre Frau nicht gewesen wäre, wäre ich jetzt tot. Sie hatte die einzig richtige Idee.« Er schwang seine Spiegelscherbe. »Die einzige Waffe, mit der man diese Kreaturen unschädlich machen kann. Jedenfalls die einzige, die ich kenne«, sagte er.
»Unschädlich?« hakte Cramer nachdenklich nach. »Sie meinen, Sie haben dieses Wesen - getötet?«
Sheldon schüttelte den Kopf. »Ich nicht. Ihre Frau.«
Jeremy sah Mary-Lou nachdenklich an. »Wann war das?«