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»Vielleicht vor einer halben Stunde.« Sie zuckte mit den Schultern. »Genau kann ich es nicht mehr sagen. Hier drin verliert man jedes Gefühl für die Zeit. Es ... ist schrecklich.«

Jeremy trat auf seine Frau zu, nahm sie in den Arm und drückte sie tröstend an sich. »Eine halbe Stunde«, wiederholte er. »Das kommt in etwa hin. Vor einer halben Stunde ist der Spiegel plötzlich zerbrochen, in dem ich gefangen war.«

In Sheldons Augen blitzte es auf. »Das würde bedeuten, daß die Spiegel ihre Macht verlieren, wenn die lebenden Spiegelbilder vernichtet werden. Sobald wir eines dieser Wesen töten, befreien wir gleichzeitig den Menschen, dem es nachgebildet wurde.«

Jeremy Cramer nickte. »Es sieht so aus.« Er war Pragmatiker. In seinem Beruf mußte er geistig flexibel sein und praktisch denken, mußte sich blitzschnell auf neue Situationen einstellen und darauf reagieren können. Auch jetzt hielt er sich nicht damit auf, lange nach Erklärungen zu suchen, sondern dachte zunächst einmal praktisch. Er deutete mit einer Kopfbewegung auf die Scherbe in Sheldons Hand. »Haben sie noch mehr von den Dingern?«

»Nein. Aber ich kann welche besorgen.« Sheldon grinste, zog seine Kette unter der Jacke hervor und ließ ihr Ende wuchtig gegen die Wand krachen.

Diesmal jedoch war die Wirkung völlig anders als zuvor. Das Glas zerbrach zwar, aber von dem Hintergrund prallte die Kette ab und federte mit so großer Wucht zurück, daß sie Sheldon beinahe am Kopf getroffen hätte. Gleichzeitig erschütterte ein dumpfer, vibrierender Schlag das gesamte Labyrinth. Die Beleuchtung flackerte, ging aus und wieder an und erlosch schließlich ganz.

Mary-Lou schrie entsetzt auf. Am Ende des Ganges, aus dem Jeremy gekommen war, schien ein grelles, weißes Licht. Dunkle Umrisse schienen sich im Zentrum des Leuchtens zu bewegen; schwarze, zuckende Tentakel, schleimige Fäden und höllische, haßverzerrte Fratzen.

Sheldon keuchte. »Was ...«

Die Erscheinung verschwand ebenso plötzlich, wie sie aufgetaucht war. Ein tiefes, unmenschliches Stöhnen drang aus den Wänden. Der Spiegel, den Sheldon zerschlagen hatte, begann in dunkelrotem Licht zu glühen. Mary-Lou starrte ihn mit ungläubigem Entsetzen an. Das Glas war in unzählige winzige Splitter zersprungen. Ein paar größere Trümmerstücke hingen noch schräg im Rahmen, und dahinter ... Mary-Lou kämpfte den aufsteigenden Ekel nieder und zwang sich, genauer hinzusehen. Die Wand war aufgeworfen, porös und von dunkelroten und schwarzen Linien durchzogen, die im Rhythmus eines unhörbaren Pulsschlages zu zucken schienen. Dunkle Tropfen quollen aus dem zerstörten Spiegel. In der dunkelroten Beleuchtung wirkten sie wie Blut.

Das Stöhnen wiederholte sich, und der Boden erbebte ein weiteres Mal. Die Spiegel schienen sich auf bizarre Weise zu wellen und zu verbiegen.

»Weg hier!« schrie Sheldon. Er fuhr herum, riß Mary-Lou und Jeremy einfach mit sich, als sie nicht schnell genug reagierten, und hetzte den Gang entlang, doch sie kamen nur wenige Schritte weit. Wo vor Sekunden noch ein offener Durchgang gewesen war, waren plötzlich Spiegel. Sheldon fluchte, fuhr herum und versuchte in einen Nebengang auszuweichen. Aber auch dort war der Durchgang versperrt. Keuchend blieb Sheldon stehen. Der Boden zitterte immer noch, und die Wände bewegten sich in konvulsivischen Zuckungen. Der Gang schien sich wie ein lebendes Wesen unter den Schmerzen zu krümmen, die Sheldons Kette ihm zugefügt hatte.

Zu allen Seiten hin war der Weg von kalt schimmernden, deckenhohen Spiegeln verschlossen, ein zwei mal fünf Meter großes Gefängnis ohne sichtbaren Ausgang.

Und dann begann sich ganz, ganz langsam die Decke zu senken.

Mark Taylor hob die Hand und blieb stehen. »Sie ist hier«, sagte er leise. »Ganz in der Nähe. Ich spüre es.« Er wartete, bis Masterton und die anderen neben ihm angekommen waren, ehe er mit einer weit ausholenden Armbewegung auf die gegenüberliegenden Häuser deutete. »Irgendwo dort vorne.«

»Holen wir sie«, sagte Masterton entschlossen.

Mark hielt ihn mit einer raschen Bewegung zurück. »Nicht so schnell. Ich ... ich spüre noch etwas. Eine Gefahr.«

Masterton zog eine Grimasse. »Diese ganze Stadt ist mir nicht geheuer«, sagte er überzeugt. »Wir hätten nicht hierherkommen sollen.«

Mark sah ihn nachdenklich an. Die Kritik an Ulthars Befehlen war unüberhörbar. Und er wußte, daß die drei anderen ebenso dachten. Irgend etwas hatte sich in ihnen verändert, seit sie durch das Spiegeltor auf diese Welt gekommen waren. Es war, als endete Ulthars Macht über ihren Willen hier. Je mehr sie sich dieser beunruhigenden Ausstrahlung näherten, desto schwächer schien der Einfluß des Magiers zu werden, und desto mehr erhielten sie ihren eigenen freien Willen zurück.

Einer der Männer schien seine Gedanken zu erraten. »Warum gehen wir nicht zurück und lassen Ulthar selbst nach dieser Frau suchen?«

Mark fuhr herum. Der Mann hielt seinem Blick einen Augenblick lang stand, dann senkte er betreten den Kopf und sah weg.

»Er hat recht«, flüsterte Masterton, als Mark sich wieder herumgedreht hatte. »Ich fühle mich nicht sehr wohl dabei, in einer unbekannten Welt voller unbekannter Gefahren herumzulaufen, nur weil Ulthar Vivian in seine Gewalt bringen will. Diese Welt ist nicht für Menschen bestimmt. Wir sollten nicht hier sein.«

»Wenn wir es nicht tun, tun es andere«, sagte Mark lahm.

Masterton grinste. »Von mir aus. Laß uns hier verschwinden. Vielleicht findet dieser Narr ein paar andere Idioten, die seine Drecksarbeit tun.«

Mark schwieg fast eine Minute. »Wir können nicht einfach gehen«, sagte er dann.

»Weil Vivian deine Frau ist?« vermutete Masterton. »Hängst du immer noch an ihr?«

»Nein.« Mark schüttelte den Kopf. »Sie ist mir völlig gleichgültig. Aber Ulthar darf sie auf keinen Fall in die Hände bekommen. Wir müssen es unter allen Umständen verhindern, wenn wir selbst leben wollen.«

Masterton zog die Augenbrauen zusammen. »Warum? Hast du immer noch Angst vor ihm?«

»In gewisser Hinsicht ja«, bestätigte Mark ernsthaft. »Du weißt ja, warum er Vivian Taylor in seine Gewalt bringen will, ihr alle wißt es. Ohne die echte Vivian ist Melissa nur ein hirnloses Geschöpf ohne eigenen Willen. Gelingt es Ulthar jedoch, Vivian in seine Spiegel zu verbannen, erwacht Melissa vollends zum Leben, und mit ihr wird er zur größten Gefahr, die die Welt je gesehen hat.«

Masterton zuckte mit den Schultern. »Was kümmert uns die Welt?«

»Nichts, Jonathan, sieht man davon ab, daß es die gleiche Welt ist, in der auch wir leben wollen«, gab Mark zurück. »Ich hätte dich für klüger gehalten. Ulthar darf Vivian nicht in die Hände bekommen, verstehst du das nicht? Wenn Melissa erwacht, ist er so gut wie unschlagbar.« Er lächelte häßlich. »Und ich glaube kaum, daß er unseren kleinen Verrat so einfach vergessen wird. Im Gegenteil, er wird uns jagen, und irgendwann wird er uns finden und töten.« Er sah Masterton und die anderen der Reihe nach an. »Deshalb werden wir Vivian fangen, wie er es befohlen hat. Aber denkt daran, was ich gesagt habe - sie darf unter keinen Umständen in Ulthars Gewalt gelangen. Es gibt nur eine Möglichkeit, diese Gefahr ein für allemal zu beseitigen. Wenn ihr Vivian seht - tötet sie.«

Er drehte sich um und deutete auf die Häuserreihe auf der anderen Straßenseite. »Sie ist in einem dieser Häuser. Jonathan, du bleibst hier und bewachst die Straße. Die anderen folgen mir. Holen wir uns die Hexe.«

23

Ulthar hatte die Fluchtversuche der drei Menschen in allen Einzelheiten verfolgt. Sein magischer Spiegel zeigte ihm alles, was irgendwo in den endlosen Gängen des Labyrinths geschah, so deutlich, als wäre er unmittelbar dabei. Ein geringschätziges Lächeln spielte um seine Lippen, als er die beginnende Panik in Sheldon Porters Augen sah. Die beiden Eindringlinge hatten den einzigen Weg gefunden, auf dem man seine Sklaven vernichten und die gefangenen Seelen befreien konnte. Aber sie waren dumm - so dumm wie fast alle Menschen, denen Ulthar in seinem Leben begegnet war. Sie hatten den Ausweg praktisch vor Augen gehabt, aber alles, woran sie dachten, war ihre kleinliche Rache.