Er bewegte die Hand, und der Spiegel wurde blind. Ulthar hatte dringendere Probleme, als die drei Menschen. Er würde sich später mit ihnen beschäftigen, wenn sie nicht bis dahin durch ihre eigene Dummheit schon den Tod gefunden hatten.
»Sind Mark Taylor und die anderen schon zurück?« fragte er leise.
Melissa schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Warum nicht?«
»Sie haben die Spur Vivian Taylors aufgenommen. Aber es scheint ... Schwierigkeiten zu geben.« Die merkliche Pause vor dem Wort Schwierigkeiten ließ den Magier aufhorchen. »Vivian ist weiter in den verbotenen Bereich vorgedrungen, als wir angenommen haben«, sagte Melissa knapp. Ihre Stimme klang vollkommen emotionslos.
Ulthar schluckte einen Fluch herunter und wandte sich ab. Er begann allmählich zu begreifen, daß er Vivian Taylor unterschätzt hatte. »Sie darf auf keinen Fall die Kristallfestung erreichen.«
Melissa schüttelte den Kopf. »Das wird nicht geschehen, Herr.«
Ulthar lachte humorlos. »Ich hoffe es.« Er begann unruhig im Raum auf und ab zu gehen.
»Was ist mit Conelly?«
Melissa lächelte kalt. »Er scheint begriffen zu haben, daß er machtlos gegen uns ist. Zumindest sind keine Anzeichen von irgendwelchen Aktivitäten ...«
»Du unterschätzt ihn«, fuhr ihr Ulthar ins Wort. »Wenn wir uns auch nur die geringste Blöße geben, schlägt er zu.« Er blieb stehen, donnerte wütend auf die Tischplatte und fuhr herum. Die Dinge nahmen im Moment eine Entwicklung, die ihm ganz und gar nicht paßte. Vivian Taylor war gegen alle Erwartungen entkommen - schlimmer noch, sie hatte den einzigen Ort erreicht, von dem aus sie ihm wirklich gefährlich werden konnte.
Die Welt, in der sie sich befand, war weit mehr als nur eine spiegelverkehrte Ausgabe der Realität. Diesen Teil ihrer Existenz verdankte sie nur einem Zufall, ein reiner Nebeneffekt der Experimente mit den Spiegeln, eine Staffage, die auch nicht länger als ein paar Jahrzehnte Bestand haben würde. Aber es war die Welt, in der seine Spiegel erschaffen worden waren und aus der sie ihre Kraft bezogen.
Moron ...
Ulthar wußte aus eigener Erfahrung, daß die Kristallfestung von Moron praktisch uneinnehmbar war. Aber er wußte auch, daß schon mancher große Feldherr oder Verschwörer über scheinbare Kleinigkeiten gestürzt war. Die Geschichte von David und Goliath mochte frei erfunden sein, aber sie hatte einen wahren Kern. Der tödlichste Fehler, den man überhaupt begehen konnte, war, seinen Gegenspieler zu unterschätzen.
»Oder ihn überschätzen«, sagte Melissa in Vivians Gestalt.
Ulthar sah überrascht auf. »Du ... liest meine Gedanken?«
Ein flüchtiges Lächeln huschte über das ebenmäßige Gesicht der Hexe. »Nein, das kann selbst ich nicht. Aber es war leicht, Ihre Gedanken zu erraten.«
Für einen kurzen Moment glaubte Ulthar, einen spöttischen Unterton in Melissas Stimme zu hören, aber natürlich war das Unsinn. Das Spiegelwesen unterstand seiner Herrschaft vollkommen, in stärkerem Maße noch als all die anderen Menschen, die er im Laufe der Jahre in seinen Spiegeln gefangen hatte. Ulthar schauderte unwillkürlich, als er daran dachte, was geschehen könnte, wenn seine Macht eines Tages versagte. Keine Gewalt des Universums wäre fähig, diese Horde des personifizierten Bösen noch aufzuhalten. Aber das würde höchstens geschehen, wenn er einmal sterben sollte, und was dann passierte, konnte ihm gleichgültig sein.
Aber etwas an Melissas Verhalten irritierte ihn. Sie schien an Eigenständigkeit und Individualität zu gewinnen, seit sich Vivian Taylor in Moron aufhielt, dem einzigen Ort, an dem seine Macht erlosch. Möglich, daß Vivians Anwesenheit dort eine ähnliche Wirkung hatte wie ihre Gefangenschaft in einem seiner Spiegel. Melissa - das geistig unterentwickelte Ebenbild Melissas, das vor ihm stand - entwickelte sich nicht zu ihrem früheren Charakter, sondern in eine Richtung, die wie bei seinen übrigen Sklaven eher den negativen Eigenschaften des Originals entsprach. Dadurch wurde sie für ihn nicht nur nutzlos, sondern möglicherweise sogar gefährlich. Die geplante Bewußtseinsspaltung schien gründlicher mißlungen zu sein, als er bislang angenommen hatte. Befand sich Vivian Taylor erst einmal in seiner Gewalt, würde er diese Kopie Melissas vernichten und noch einmal ganz von vorne anfangen müssen.
Melissa bewegte sich unruhig, und obwohl sie es bestritten hatte und diese Kraft auch früher nicht besaß, war sich Ulthar nicht sicher, ob sie nicht doch in der Lage war, bis zu einem gewissen Grad seine Gedanken zu lesen, sie zumindest zu ahnen. Er begann sich immer unwohler in ihrer Gegenwart zu fühlen. Selbst für ihn, ihren Schöpfer, war es ein gespenstischer Anblick, die schlanke Frau vor dem Spiegel entlanggehen zu sehen, ohne daß ihr Spiegelbild auf der silbernen Fläche erschien. Ihm blieb nicht mehr sehr viel Zeit. Wenn dieses Wesen, das nicht Melissa, sondern nur eine Personifizierung ihrer und Vivian Taylors negativer Eigenschaften darstellte, weiterhin an freiem Willen gewann, würde es sich möglicherweise gegen seine Vernichtung wehren und vielleicht sogar gegen ihn wenden. Um so dringender wurde es für ihn, Vivian Taylor schnell in seine Gewalt zu bekommen.
Ulthar atmete hörbar ein. »Wir können nicht mehr länger warten«, entschied er. »Du wirst Mark und den anderen folgen und ihnen helfen, Vivian Taylor zu fangen.« Auf diese Art steigerte er die Erfolgsaussichten der Gruppe und befreite sich gleichzeitig für eine Weile von Melissas Gegenwart. Sobald sie den Auftrag ausgeführt hatte, würde er sie töten und noch einmal neu erschaffen.
Melissa lächelte. Es war ein seltsames, undefinierbares Lächeln, das sowohl Zufriedenheit als auch boshafte Vorfreude ausdrücken konnte. »Wie Ihr befehlt, Meister.« Sie drehte sich um und ging mit steifen Schritten aus dem Raum.
Ulthar starrte die geschlossene Tür noch lange an, nachdem Melissa gegangen war. Er verspürte eine innere, nicht zu erklärende Unruhe. Obwohl er sich dagegen wehrte, wanderte sein Blick wieder zu dem deckenhohen, dunkelroten Samtvorhang, der fast die ganze Ostseite des Raumes beanspruchte. Die Falten schienen sich zu bewegen. Es war keine sichtbare Bewegung, sondern irgend etwas außerhalb des menschlichen Wahrnehmungsvermögens, eine dumpfe, rein gefühlsmäßige Unruhe, die unter der Oberfläche des Sichtbaren zu brodeln schien.
Ulthar schauderte. Die Herren von Moron duldeten kein Versagen. Vielleicht hatte er schon zu viele Fehler gemacht ...
Er fuhr herum, lief aus dem Raum und warf die Tür hinter sich zu.
Als er gegangen war, bewegte sich der Vorhang. Für einen Moment klafften die beiden Hälften auseinander und gaben den Blick auf eine unglaublich fremde und bizarre Welt frei. Ein seltsamer, klagender Ton wehte herein, ein Geräusch, als streiche der Wind durch einen verzauberten Kristallwald. Es klang wie ein böses Lachen.
Vivian hatte jedes Wort verstanden, das Mark gesagt hatte. Sie sah, wie Masterton bis zur Straßenmitte zurückwich und stehenblieb. Von dort aus hatte er sämtliche Häuser auf dieser Straßenseite im Blick. Die anderen machten sich unter Marks Führung daran, die Gebäude zu durchsuchen.
Vivian gab sich keinen Illusionen hin - sie hatte schon mehrmals Kostproben der übermenschlichen Kraft dieser Wesen bekommen. Sie hatten sich mit dem Übergang in diese Welt verändert, ihren freien Willen wiedergewonnen, aber das änderte nichts an ihrer Stärke und machte sie eher noch gefährlicher. Der Mark Taylor, der die kleine Gruppe anführte, war nicht ihr Mann. Auch wenn er jetzt nicht mehr unter Ulthars Einfluß stand, war er immer noch nur ein Spiegelbild, in dem sämtliche negativen Charaktereigenschaften des echten Mark die Oberhand gewonnen hatten. Es war eine Kreatur, die eiskalt nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht war.