Выбрать главу

Bisher war sie Ulthars Nachstellungen nur entkommen, weil der Magier darum bemüht war, sie unbeschadet in die Hände zu bekommen. Mark hingegen verfolgte ein anderes Ziel, und er würde sich dabei von keinerlei Skrupel oder Rücksichtnahme beirren lassen.

Sie mußte weg.

Noch einmal sah sie sich um, aber es gab keinen Ausgang. Die Wand hinter ihr war glatt und fugenlos, rechts und links davon war nichts außer abgrundtiefer Schwärze und tödlicher Kälte und über ihr ... Sie drehte sich um, drückte die Tür lautlos ins Schloß und sah nach oben. Über ihrem Kopf war die gleiche wesenlose Schwärze wie ringsum, aber die Stirnwand des Raumes ging für die Länge von etwa einem Meter in eine rauhe, unverputzte Decke über, um dann wie abgeschnitten aufzuhören - das Stück Decke, das irgendwann einmal in einem Spiegel zu sehen gewesen war.

Vivian zögerte nicht länger. Sie lief mit zwei, drei schnellen Schritten durch den Raum, federte kurz in den Knien ein und sprang dann mit ausgestreckten Armen in die Höhe. Beim dritten Versuch bekam sie die Kante des Deckenstückes zu fassen. Sie klammerte sich verzweifelt fest, konzentrierte sich und zog sich mit aller Kraft hinauf.

Hinter ihr ertönte ein wütender, enttäuschter Schrei. Graue Helligkeit strömte in den Raum, als die Tür wuchtig aufgestoßen wurde, und im Eingang erschien einer von Marks Begleitern.

Vivian verdoppelte ihre Anstrengungen, hinaufzukommen. Es war eine phantastische, bizarre Art des Aufstiegs - ihre Finger schienen sich da, wo sie über die Bruchkante hinausgriffen, aufzulösen. Aber sie hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. In einem verzweifelten Versuch ließ sie die Bruchkante mit der Rechten los und griff blind in das unsichtbare Nichts über ihr hinein. Ihre Hand verschwand bis zum Ellbogen, als sie hinaufgriff, aber sie bekam etwas Hartes zu fassen und zog sich blitzschnell hinauf.

Eine Hand griff nach ihrem Fußgelenk und zerrte daran. Vivian schrie vor Schmerz und Erschrecken auf und trat in blinder Angst um sich. Ihr Fuß trat auf etwas Weiches. Der Griff um ihr Fußgelenk löste sich. Der Mann taumelte zurück, verlor das Gleichgewicht und stürzte mit wild rudernden Armen ins Nichts. Sein Schrei schien endlos in Vivians Ohren zu gellen.

Eine zweite Gestalt erschien im hellen Rechteck der Tür. Es war Mark.

»Vivian! Bleib stehen!« rief er.

Vivian zog sich mit einem entschlossenen Ruck höher, in die Schwärze hinein. Ihre Arme waren jetzt bis zu den Ellbogen verschwunden. Es sah aus, als löse sich ihr Körper Stück für Stück auf.

»Vivian! Bleib hier!« brüllte Mark noch einmal. »Ich will dir helfen!« Er rannte mit träum wandlerischer Sicherheit über den schmalen Grat auf sie zu, griff nach ihren Beinen und bezahlte diesen Versuch mit einem schmerzhaften Tritt auf die Finger.

Vivian nahm all ihren Mut zusammen und zog sich nach oben. Sie spürte absolut nichts, als sie durch die unsichtbare Barriere glitt, aber dann wurde es vor ihren Augen plötzlich wieder hell. Sie befand sich in einem hohen, altmodisch eingerichteten Raum, durch dessen Fenster graues Zwielicht sickerte.

Rasch zog sie sich vollends nach oben, rollte über den weichen Teppich und blieb einen Herzschlag lang schweratmend liegen. Sie versuchte erst gar nicht, das Unerklärliche zu erklären. Offensichtlich waren die Naturgesetze ihrer Welt hier außer Kraft gesetzt. Alles, was je in einem Spiegel abgebildet worden war, war hier vorhanden. Räume, die scheinbar schwerelos im Nichts schwebten, jäh aufklaffende Abgründe, blinde Flecken in der Schöpfung, hinter denen das Nichts lauerte ... alles war möglich. Und sie wußte nun, daß es möglich war, das Nichts unbeschadet zu durchqueren, wenn es dahinter einen festen Halt gab.

Sie stand auf, trat ans Fenster und sah hinaus. Die Gestalt Jonathan Mastertons stand immer noch auf der Straße vor dem Haus. Sie sah, daß er sich heftig gestikulierend mit jemandem außerhalb ihres Gesichtsfeldes unterhielt und dann abrupt zu ihr hinaufsah.

Die Sicherheit, in der sie sich im Moment befand, trog. Wenn sie einen Weg gefunden hatte, hier hinaufzugelangen, dann würden ihre Verfolger diesen Weg bald ebenfalls finden. Sie fuhr herum, lief zur Tür und sah vorsichtig auf den Korridor hinaus. Auch der Gang war nur halb vorhanden. Die linke Wand und ein keilförmiger, nach hinten schmaler werdender Streifen des Fußbodens waren da, während ihr auf der rechten Seite die gleiche, angsteinflößende Schwärze wie unten entgegengähnte.

Vivian drückte sich eng gegen die Wand und ging vorsichtig los. Ihr Inneres war in hellem Aufruhr. Sie spürte den Boden unter den Füßen, und ihr Verstand sagte ihr, daß er fest war und ihr Gewicht trug. Aber ihre Augen signalisierten ihr, daß sie sich über einem endlosen Abgrund bewegte und der Boden jeden Augenblick unter ihrem Gewicht nachgeben konnte. Sie hatte einmal eine Geschichte über eine Brücke gelesen, die nur existierte, solange man fest an ihre Existenz glaubte, die sich aber in Nichts auflöste, sobald man an ihrer Tragfähigkeit zu zweifeln begann. Vivian verdrängte diesen Gedanken rasch wieder.

Sie erreichte die Biegung des Ganges. Der Korridor dahinter schien vollkommen erhalten zu sein. Vivian bleib einen Augenblick lang stehen und sah sich unschlüssig um. Von ihren Verfolgern war nichts zu sehen, aber es konnte nur noch Sekunden dauern, ehe sie auftauchten.

Es mußte einen Weg aus diesem Haus geben! Sie lief zögernd bis zur Treppe und blieb abermals stehen. Die Stufen führten steil in die Höhe. Sie dachte plötzlich daran, wie grausam verändert die Fassade des Hauses dort oben von außen ausgesehen hatte, aber ihr blieb keine andere Wahl, als diesen Weg einzuschlagen.

Von panischer Angst getrieben, begann sie die Stufen emporzusteigen. Es blieb ihr erspart, in die oberen Stockwerke des Hauses vorzudringen, allerdings auf eine ganz andere Art, als sie sich erhofft hatte. Sie kam genau zwei Stockwerke hoch, dann endete die Treppe ein Stück über ihr abrupt, und zu allem Überfluß, konnte sie unter sich bereits gedämpfte Stimmen und die polternden Schritte ihrer Verfolger hören.

Wahllos stürzte sie durch eine der Türen, die sie in einem seitlich abzweigenden Korridor entdeckte. Das Zimmer dahinter schien ein genaues Duplikat des Raumes im Erdgeschoß zu sein, durch den sie in dieses irrsinnige Gebäude gelangt war: ein schmaler, keilförmiger Streifen festen Bodens, der in ein vielleicht anderthalb Meter breites Wandstück überging. Rechts und links davon war nur Schwärze.

Vivian Taylor fluchte lautlos vor sich hin. Sie hatte sich selbst in eine Falle hineinmanövriert. Die Schritte hinter ihr waren bereits zu nah, als daß ihr noch die Zeit blieb, ihr Versteck zu verlassen und sich nach einem anderen umzusehen. Mit klopfendem Herzen preßte sie sich in den toten Winkel zwischen Tür und Wand, den einzigen schmalen Streifen festen Bodens, den man von außen nicht einsehen konnte.

»Sie muß hier irgendwo sein«, hörte sie Marks Stimme durch die dünne Trennwand dringen. »In einem dieser Zimmer. Ich habe ihre Schritte genau gehört.«

»Und wenn sie weiter die Treppe hinauf gegangen ist?« ertönte eine andere Stimme.

Mark lachte rauh. »Sie besitzt zwar ein paar besondere Fähigkeiten, aber fliegen kann sie noch nicht«, sagte er spöttisch. »Die Treppe hört da hinten auf. Also los, worauf wartet ihr noch? Durchsucht die Zimmer.«

Schritte näherten sich. Vivian hörte, wie die Tür zum Nebenzimmer aufgestoßen wurde. Es konnte nur noch wenige Sekunden dauern, bis ihre Verfolger hier waren, und diesmal würde sie ihnen nicht noch einmal entkommen. Mark würde ihr keine zweite Chance geben, und der winzige, nur wenige Quadratmeter große Bodenstreifen, der sich wie eine Brücke über dem bodenlosen Nichts spannte, bot nicht einmal ein Versteck, hinter dem sich eine Maus hätte verbergen können.

Die Schritte kamen noch näher, dann wurde die Türklinke energisch heruntergedrückt.