Vivian reagierte, ohne zu denken. Ihre Finger griffen nach der Türkante, gleichzeitig suchte sie mit den Fingerspitzen an den aufgesetzten Zierleisten nach Halt. Als die Tür nach innen schwang, klammerte sich Vivian mit Finger- und Zehenspitzen daran fest. Sie begriff erst jetzt wirklich, was sie tat, aber es war zu spät, um noch abzuspringen. Die Tür schwang in einem Halbkreis auf und glitt über die scharf abgezirkelte Bodenkante hinaus ins Nichts. Vivian schloß die Augen und klammerte sich mit der Kraft der Verzweiflung an den winzigen Vorsprüngen fest.
Ein dunkler, durch das schräg einfallende Licht bizarr verzerrter Schatten erschien unter der Tür. »Hier ist sie nicht.«
»Aber sie muß hier irgendwo sein!« protestierte Mark vom Korridor aus. »Es gibt nur diese sechs Türen. Sie muß hier irgendwo in der Nähe sein.«
Der Schmerz in Vivians Fingern wurde unerträglich. Sie spürte, wie ihre Kraft mit jeder Sekunde nachließ. Sie öffnete die Augen, sah nach unten und stöhnte lautlos, als ihr Blick in die bodenlose Tiefe fiel.
»Aber das gibt es doch nicht! Sie ...«
»Sie wird tot sein«, fiel ihm eine andere Stimme ins Wort. »Es gibt keinen zweiten Ausgang. Wenn sie hier irgendwo wäre, hätten wir sie erwischt. Sie muß abgestürzt sein. Das ist die einzige Erklärung.«
Vivian betete lautlos, daß Mark die Erklärung akzeptieren würde. Sie wußte, wie stur er sein konnte, und es gab keinen Grund, anzunehmen, daß sein Doppelgänger ihm in dieser Beziehung nachstehen sollte.
»Verschwinden wir von hier. Wir vergeuden unsere Zeit«, sagte die fremde Stimme. Im gleichen Augenblick tönte von der Straße ein markerschütternder Schrei herauf. »Verdammt, das ist Masterton. Ich habe dir gesagt, daß mir die Gegend nicht geheuer ist. Laß uns verschwinden.«
»Ihr bleibt hier«, sagte Mark dumpf. »Ich gehe hier nicht eher weg, bis ich Vivian habe. Sie oder ihre Leiche.«
Vivian spürte, wie ihre Kräfte nachließen. Sie würde sich nur noch wenige Sekunden lang halten können.
»Du kannst ja bleiben, wenn es dir Spaß macht«, antwortete die gleiche aggressive Stimme, die Mark schon einmal widersprochen hatte. »Ich verschwinde jedenfalls von hier. Vancourn ist schon tot - ich habe keine Lust, ihm zu folgen.« Der Schatten unter der Tür wirbelte herum. Hastige, schnelle Schritte entfernten sich auf dem Korridor.
»Verdammt noch mal - ihr bleibt hier!« brüllte Mark. Seine Stimme überschlug sich. »Ich ...«
Vivians Muskeln verkrampften sich. Sie stöhnte, warf den Kopf in den Nacken und versuchte, die unerträglichen Schmerzen in Fingern und Fußspitzen zu ignorieren. Es ging nicht.
Und dann, genau in diesem Augenblick, in dem sie glaubte, es nicht mehr aushalten zu können, hörte sie, wie Mark sich herumdrehte und den beiden anderen folgte. Sie seufzte erleichtert und brachte die Tür leicht ins Schwingen, bis sie den festen Boden erreichen konnte. Vivian ließ sich zu Boden fallen, blieb eine Zeitlang mit hämmerndem Herzen liegen und stand schließlich mühsam auf. Die Anstrengung, die Tür zu öffnen und auf den Korridor hinauszugehen, erschien ihr fast zu groß.
Immer deutlicher spürte sie, wie müde und erschöpft sie war. Sie war jetzt praktisch seit drei Tagen ununterbrochen auf den Beinen, und sie hatte seit gestern abend weder etwas gegessen noch getrunken. Ihr Magen begann zu revoltieren. Übelkeit stieg in ihr empor, spülte einen widerwärtigen, bitteren Geschmack in ihren Mund und ließ sie schwindeln. Vor ihren Augen bewegten sich feurige Kreise. Sie taumelte gegen die Wand und sank langsam daran herunter.
Mit der Schwäche kam die Verzweiflung. Bei der Anstrengung, unter der sie bisher gestanden hatte, hatte sie noch keine Zeit gehabt, Angst oder Mutlosigkeit zu empfinden.
Bis jetzt.
Von der Straße drang gedämpfter Kampflärm zu ihr empor; wütende, zischende Schreie, ein dumpfes Klatschen, als träfe irgend etwas unglaublich Schweres und Hartes auf Fleisch und Knochen, gefolgt von einem wütenden Fauchen und schweren, stampfenden Schritten.
Vivian öffnete mühsam die Augen. Das Fenster war ein verschwommener, grauer Umriß irgendwo in unerreichbarer Ferne, und der Kampflärm schien wie durch einen dichten, wattigen Vorhang zu ihr herüberzuwehen; Geräusche aus einer anderen Welt, mit der sie nichts zu tun hatte.
Sie versuchte aufzustehen, aber es ging nicht. Ihre Muskeln weigerten sich, ihren Befehlen zu gehorchen. Sie spürte, wie ein warme, wohltuende Lähmung von ihrem Körper Besitz ergriff, eine verlockende Dunkelheit. Sie kämpfte dagegen an, aber sie spürte, daß sie den Kampf verlieren würde. Schließlich war sie nur ein Mensch, und selbst ein Mensch mit übernatürlichen Kräften braucht von Zeit zu Zeit eine Erholungspause.
Sie war allein.
Zum ersten Mal in ihrem Leben begriff sie, was das Wort Einsamkeit in seiner letzten Konsequenz bedeutete. Was es hieß, wirklich allein zu sein, das einzige wirklich lebende Wesen in einer ganzen Welt zu sein, in der jedes Molekül, jedes Atom Feindseligkeit und Ablehnung ausstrahlte.
Allein ...
Ohne daß sie es merkte, sank sie vollends zu Boden, krümmte sich wie ein schlafendes Baby auf der Seite zusammen und verfiel in einen todesähnlichen Schlaf.
24
Sheldon Porters Muskeln waren bis zum Zerreißen gespannt. Er stand breitbeinig in der Mitte des Ganges, stemmte die Handflächen gegen die Decke und versuchte unter Aufbietung aller Kraft, den langsam niedersinkenden Tod aufzuhalten. Sein Gesicht war schweißüberströmt. Die Muskeln an Hals und Rücken traten vor Anstrengung sichtlich hervor. Dennoch senkte sich die Decke weiter. Langsam vielleicht einen Zentimeter in der Minute, vielleicht weniger, aber unbarmherzig.
»Ich - ich schaffe es nicht«, stöhnte er. Seine Stimme war vor Anstrengung verzerrt und kaum verständlich. »Sie müssen mir ... helfen.«
Cramer erwachte aus seiner Erstarrung. Er fluchte wütend, riß sich das Jackett vom Leib und baute sich neben dem jungen Hünen auf. Seine ausgestreckten Fingerspitzen berührten kaum die Decke.
Porter schnaufte, ließ die Arme sinken und trat keuchend zurück. »Sinnlos. So halten wir sie nie auf. Sie können aufhören, Jeremy.«
Cramer knurrte, stellte sich auf die Zehenspitzen und preßte noch einmal die Hände gegen die silberne Decke. Über ihm schien ein kopfstehendes Spiegelbild die Geste zu erwidern.
»Hören Sie auf«, wiederholte Sheldon. »Es muß einen anderen Weg geben.«
Cramer ließ wütend die Arme sinken. »Wissen Sie einen?«
»Natürlich nicht. Aber wir helfen uns nicht, wenn wir unsere Kräfte vergeuden.«
Cramer erwiderte Sheldons Blick zornig, bückte sich dann und hob seine Jacke auf. »Vielleicht haben Sie einen Sesam-öffne-dich-Spruch oder so etwas auf Lager«, sagte er halblaut.
»Jeremy! Bitte ...« Mary-Lou eilte zu ihrem Mann hinüber und versuchte ihre Hand auf seine Schulter zu legen.
Cramer streifte sie wütend ab. »Ihr beiden scheint euch ja prächtig angefreundet zu haben«, sagte er aggressiv.
Zwischen Sheldons Augen erschien eine steife Falte. »Sie werden unsachlich, Mister Cramer«, sagte er betont freundlich. »Ihre Frau hat mir zweimal das Leben gerettet. Wenn sie nicht gewesen wäre, wäre ich jetzt ebenfalls in einem dieser verdammten Spiegel gefangen. Sie übrigens auch noch.«
Cramer schwieg eine Weile. »Sie haben recht«, sagte er dann. »Es ... es tut mir leid. Ich bin nervös.«
»Das sind wir alle«, gab Sheldon kalt zurück. »Aber das ist kein Grund, den wilden Mann zu spielen.«
»Bitte, fangt nicht schon wieder an, euch zu streiten«, sagte Mary-Lou. »Überlegt lieber, wie wir hier herauskommen.«
»Wahrscheinlich gar nicht«, sagte Cramer dumpf. »Die Falle ist zugeschnappt. Und wir sind wie blinde Schafe hineingerannt.«
»Ich hätte diesem Ulthar den Schädel einschlagen sollen, als ich ihm gegenüberstand«, grollte Sheldon.