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»Sie haben es doch versucht, oder?« Mary-Lou lächelte flüchtig, als sie Sheldons betroffenes Gesicht sah. »Außerdem glaube ich nicht, daß Ulthar für diese Falle verantwortlich ist.«

»Wie meinst du das?« fragte Jeremy.

Mary-Lou zuckte hilflos mit den Achseln. »Ich weiß, es ... es hört sich verrückt an, aber ...«

»Das macht nichts. Die ganze Sache ist verrückt. Reden Sie«, drängte Sheldon.

»Vorhin«, begann Mary-Lou, »als Sie ... den Spiegel zerschlugen, da ... da hatte ich den Eindruck, als ob der ganze Raum sich krümmen würde. Fast so, als ... als hätte er Schmerzen.«

»Du meinst, diese Lichteffekte, das Beben ...«

Mary-Lou nickte. »Ja. Ich habe mir den Spiegel angesehen, den Sheldon zertrümmert hat. Ich weiß, ihr werdet mich für verrückt halten, aber er ... ich finde, er sah fast wie eine Wunde aus.«

Cramer sah seine Frau verblüfft an. »Das hört sich an, als ob du glaubst, dieses ganze verdammte Labyrinth würde leben. Willst du das damit andeuten?«

Mary-Lou schüttelte den Kopf. »Ich will gar nichts andeuten. Ich hatte nur den verrückten Gedanken, daß dieses Ding sich ... gewehrt hat, wenn du so willst.«

»Aber das ist doch Unsinn!« protestierte Cramer.

»Vielleicht«, murmelte Sheldon. »Aber vielleicht auch nicht. Wenn diese Spiegel in der Lage sind, Menschen in sich aufzusaugen und ihren Kopien eigenes Leben einzuhauchen ... Nach allem, was ich in den letzten Stunden erlebt habe, bin ich langsam bereit, buchstäblich alles zu glauben.« Er sah Mary-Lou nachdenklich an, versuchte zu lächeln und gab es dann auf, als er merkte, wie mißlungen die Geste wirkte. Auf seiner Stirn perlte feiner, glitzernder Schweiß. »Wir haben sowieso nichts mehr zu verlieren«, sagte er achselzuckend.

»Was haben Sie vor?« Cramer trat unruhig auf der Stelle und beobachtete ihn mißtrauisch.

Sheldon grinste. »Ausprobieren, ob Ihre Frau recht hat.« Er griff in die Jackentasche und zog die zusammengerollte Kette hervor. Seine Muskeln entspannten sich, als er die Waffe über dem Kopf schwang. »Wenn das hier die Reaktion auf Schmerzen war, dann wollen wir sehen, was passiert, wenn wir diesen Spiegeln noch mehr weh tun«, murmelte er.

Die Kette sauste mit hellem Pfeifen nieder. Glas klirrte. Ein Hagel winziger scharfkantiger Geschosse überschüttete Sheldon, während der Spiegel in zwei große und unzählige kleinere Scherben zerbarst. Ein ungeheures Stöhnen ließ die drei Menschen zusammenzucken. Der gesamte Raum schien sich aufzubäumen. Der Boden hob sich ruckhaft und sackte gleich darauf wie ein bockendes Pferd wieder zurück. Sheldon prallte hart mit dem Hinterkopf auf. Für einen Moment versank seine Umgebung hinter einem Vorhang aus rotem, pulsierendem Schmerz. Er kämpfte gegen das Gefühl an, stemmte sich mühsam auf Hände und Knie hoch und suchte mit ungeschickten Bewegungen nach seiner Kette, die irgendwo zwischen den Glassplittern auf dem Boden lag.

»Volltreffer«, murmelte er. »Sie hatten recht, Mary-Lou.« Er lächelte verzerrt, stemmte sich vollends hoch und holte zu einem weiteren Schlag aus.

Diesmal hatte er den Eindruck, der ganze Raum würde zusammenstürzen. Ein fürchterliches, schmerzerfülltes Brüllen peinigte seine Ohren. Die Wände zogen sich zusammen, verdrehten sich. Der Boden kippte, wurde für einen Moment zur Wand und kippte dann mit einem Ruck zurück. Die Decke sackte mit einem schmatzenden Geräusch einen halben Meter herunter. Wellen und schnelle, rhythmische Zuckungen liefen über die Spiegel. Sheldon, Mary-Lou und Jeremy purzelten haltlos durcheinander. Ein dumpfes, vibrierendes Gefühl von Schmerz und hilfloser, unbändiger Wut schien den Raum zu erfüllen.

Sheldon rappelte sich mühsam hoch, schwang die Kette und ließ sie abermals gegen die Wand krachen. Der Spiegel zerbarst klirrend. Dahinter war eine amorphe, dunkelrote Masse zu sehen. Sheldon schwang mit wütendem Knurren seine Waffe und ließ sie in die fleischähnliche Masse klatschen. Die Kettenglieder drangen zentimetertief ein, rissen eine lange, blutige Spur und kamen mit einem saugenden Geräusch wieder frei.

Ein ungeheurer, unmenschlicher Schrei ließ die drei Menschen mit schmerzverzerrten Gesichtern zusammenbrechen. Mit einem fürchterlichen Knall zerbarsten sämtliche noch intakten Spiegel. Schwarze, schleimige Flüssigkeit tropfte von der Decke herunter, und die Beleuchtung ging in ein tiefes, pulsierendes Dunkelrot über.

Noch einmal schwang Sheldon seine Kette und schlug zu. Die Wand schien vor ihm zurückzuweichen, aber die Bewegung war ziellos und viel zu langsam.

»Sheldon!« Mary-Lous Stimme war über dem körperlichen, gequälten Schrei kaum zu verstehen. »Hinter dir!«

Sheldon wirbelte herum, auf einen heimtückischen Angriff gefaßt. Aber es gab keine neuen Ungeheuer, keine neuen Schrecken, mit denen sie Ulthars Kabinett überraschte. Hinter ihm war ein niedriger, pulsierender Durchgang entstanden. Sheldon zögerte keinen Augenblick. Er riß Mary-Lou mit sich, stürmte durch die Öffnung und blieb schweratmend stehen. Cramer kam prustend und keuchend hinterhergelaufen.

Unmittelbar hinter ihm schloß sich der Durchgang wieder.

»Geschafft«, sagte Sheldon. Seine Stimme zitterte. »Wir sind draußen. Dieses Ding hat wohl eingesehen, daß wir unverdaulich sind. Bevor wir ihm noch mehr weh tun können, hat es uns lieber nach draußen gelassen.«

»Draußen?« Mary-Lou teile Sheldons Optimismus nicht so ganz. Sie waren zwar aus der Falle entkommen, aber es schien, als wären sie vom Regen in die Traufe geraten.

Der Raum war gigantisch. Die Decke schien so hoch zu sein, daß sich der Blick irgendwo in der Höhe verlor, und die gegenüberliegende Wand verschwamm im Dunst der Entfernung. Es gab hier keine Gänge und Kreuzungen, aber Boden und Wände waren mit Tausenden und Abertausenden von hohen, rechteckigen Spiegeln bedeckt.

Und noch während Mary-Lou hinsah, erwachten einige der Spiegelbilder zu gespenstischem, tödlichem Leben.

Eisiger Wind wehte von Norden her über die Ebene, spielte raschelnd mit Laub und trockenen Blättern und zauberte kleine Wellenmuster auf die Oberflächen der Pfützen, die die Straße wie ein Muster achtlos hingeworfener Spiegelscherben bedeckten. Die Luft roch nach Regen, und über dem Meer ballten sich dunkle, drohende Wolkenberge auf. Die Sonne hatte ihre Wanderung fast beendet. Der große goldene Ball senkte sich dem östlichen Horizont entgegen; seine Konturen zerfaserten im unteren Drittel, lösten sich in rote und orangefarbene Streifen auf und verschmolzen mit der verschwommenen Trennlinie zwischen Meer und Horizont.

Die Frau stand hoch aufgerichtet auf dem Hügelkamm. Gegen den grellen Hintergrund des Sonnenunterganges wirkte ihr Körper wie eine schwarze, scherenschnittähnliche Silhouette. Ihr Haar bewegte sich wie ein Schleier im Wind. Der Blick der großen, dunklen Augen war starr auf die schwarze Silhouette Manhattans gerichtet, die sich wie die Zinnen einer mittelalterlichen Burg am Horizont erhob.

Deutlich spürte sie die Gefahr, die ihr von dort drohte. Sie dachte gar nicht daran, Ulthars Befehl zu befolgen und dorthin zu gehen.

Der Magier hatte einen tödlichen Fehler begangen. Nicht nur einmal, sondern gleich zweimal, und er wußte es noch nicht einmal. Selbst der Magier schien nicht alle Geheimnisse der Spiegelwelt zu kennen. In dieser Welt endete seine Macht. Er hätte schon Mark niemals hierherschicken dürfen. Melissa zweifelte nicht daran, daß auch er und seine Begleiter sich von Ulthars Einfluß befreit hatten. So wie sie. Sie war kein willenloser Roboter mehr, keine Puppe, die seinen Befehlen bedingungslos gehorchen mußte.

Und sie würde es auch nie wieder werden.

Ulthar war ein Narr. Früher einmal hatte sie ihn geliebt, hatte es sich zumindest eingebildet, auch wenn sie es heute nicht mehr nach vollziehen konnte. Aber damals war er immerhin ein stattlicher Mann gewesen, voller Energie und hochtrabender Pläne. Mit ihm zusammen wäre sie unschlagbar gewesen, und vermutlich hatte diese Aussicht ihre Gefühle verwirrt, bis sie sich eingebildet hatte, sie würde ihn lieben.