Aber es war gleichgültig, was damals gewesen war. Heute waren die Bedingungen anders. Ulthar war alt geworden, alt und häßlich. Bildete er sich ernsthaft ein, sie würde einen Greis wie ihn lieben können? Mehr noch als sein körperlicher Verfall jedoch stieß ihn seine seelische Veränderung ab. Ulthar war nur noch ein Fossil, das nicht in diese Zeit paßte, nicht mehr als ein Schatten seiner selbst. Seine Macht war größer als je zuvor, doch er besaß nicht mehr die Energie, sie sinnvoll einzusetzen. Ein ganzes Vierteljahrhundert hatte er vergeudet und ihre gemeinsame Sache dadurch verraten. Seine Suche nach ihr war nur ein Vorwand, eine Ausrede, mit der er sein Versagen vor sich selbst gerechtfertigt hatte. In Wahrheit war er damals zusammengebrochen, hatte seinen Lebenswillen verloren und sich vor der Welt verkrochen. Wenn er nicht in der Lage war, mit Schicksalsschlägen fertig zu werden, zeigte das nur, wie schwach er in Wahrheit war.
Sie hatte ihm sicher viel zu verdanken, ohne ihn wäre sie immer noch ein Teil Vivian Taylors, ohne sich ihres wahren Ichs bewußt zu sein. Aber ihre Befreiung war nicht allein auf Ulthars Anstrengungen zurückzuführen. In fünfundzwanzig Jahren hatte er sie nicht gefunden, und wahrscheinlich wäre es auch in Zukunft nicht anders gewesen, wenn Vivian nicht durch Zufall nach New York gekommen wäre. Selbst ein Blinder hätte sie unter diesen Umständen entdecken müssen.
Ulthar jedoch hatte auch dann noch versagt. Eine schwache und hilflose Frau wie Vivian Taylor hatte seiner ganzen Macht getrotzt und war ihm entkommen. Nur ihren verweichlichten, sentimentalen Gefühlen für diesen Mark hatte er es zu verdanken, daß sie zu ihm zurückgekehrt und sein Vorhaben doch noch gelungen war. Ulthar begann wieder Initiative zu entwickeln, aber es war zu spät für ihn, die verlorene Zeit aufzuholen. Melissa machte sich keine Illusionen, er konnte ihr nicht mehr nützen. Sein zaghaftes Vorgehen gegen Conelly, den Mann, der sie getötet hatte, zeigte deutlicher als alles andere, wie sehr sich Ulthar verändert hatte. Statt den Monstermacher mit einem harten, gezielten Schlag zu vernichten, hatte er bedächtig und ängstlich taktiert, hatte sogar einen Pakt mit Conelly geschlossen, und wenn sie nicht gewesen wäre, hätte die Kreatur des Monstermachers ihn sogar besiegt. Damit war ihre Schuld Ulthar gegenüber abgegolten.
Erst jetzt war sie wirklich frei geworden, und sie erinnerte sich daran, wie Ulthar sie behandelt hatte. Sie hatte seine Gedanken gelesen und seine Abscheu ihr gegenüber gespürt. Sie wußte sogar, daß er vorhatte, sie zu vernichten, sobald er Vivian Taylor wieder in seiner Gewalt hatte.
Soweit aber würde es nicht kommen.
Sie hatte nicht vor, ihm Vivian zu bringen, und Mark Taylor verfolgte vermutlich auch schon längst ganz andere Ziele. Vivian würde aller Voraussicht nach hier in der Spiegelwelt sterben, und mit etwas Glück würde es dem Spiegelbild Marks nicht anders ergehen.
Keiner der beiden würde je nach England zurückkehren. Sie hingegen würde es tun.
Noch war sie nicht stark genug, gegen Ulthar zu kämpfen. Der Taylor-Konzern jedoch besaß Macht, und Melissa war nicht gewillt, darauf zu verzichten. Man würde sich vielleicht über ihr verändertes Verhalten wundern, aber niemand würde bezweifeln, daß sie Vivian Taylor wäre, Mark Taylors Frau und seine Alleinerbin. Sie würde den Taylor-Konzern übernehmen und leiten, würde ihre Macht ausbauen, und irgendwann würde sie Ulthar vernichten. Sie empfand keinen Haß gegen ihn, er war ihr gleichgültig, aber er kannte ihre wahre Identität, und er war der einzige, der ihr gefährlich werden könnte. Deshalb war es besser, diese Gefahr sobald wie möglich zu beseitigen. Ulthar war schon jetzt verloren, auch wenn er es noch nicht wußte.
Ganz gleichgültig, welche Gefühle sie einmal für ihn gehegt hatte, er wäre in jedem Fall nur eine kurze Episode ihres Lebens gewesen. Sie lebte bereits seit Jahrhunderten, so lange, daß Melissa selbst schon vergessen hatte, wann genau sie geboren war. Sie wußte nur, daß es in einer dreckigen, kleinen Hütte irgendwo im Norden Schottlands gewesen war. Schon damals, in ihrem ersten Leben, hatte sie magische Kräfte besessen, wenn auch zunächst nur schwach. Aber sie hatte Zeit gehabt, ihr Potential zu entwickeln, viel Zeit. Es hatte fast ihr ganzes erstes Leben gedauert, bis sie auf die Beschwörung gestoßen war, die ihr den Wechsel in einen fremden Körper ermöglichte, aber die langen Jahre des Forschens hatten sich mehr als bezahlt gemacht.
Ihr Leben war eine Odyssee durch die finsteren Jahre des Mittelalters geworden, mit seinem Aberglauben, dem kirchlichen Wahn und den Hexenverfolgungen, aber sie hatte überlebt, wenn auch manchmal nur knapp. In einer Ironie des Schicksals war sie erst ausgerechnet in diesem Jahrhundert, in dem man nicht mehr an Hexen glaubte und das Übernatürliche verleugnete, erstmals wirklich in Gefahr geraten, als Conellys Schergen sie fast getötet hatten.
Aber auch das war nur noch Vergangenheit, und im Rückblick hatten sich die Geschehnisse sogar zu ihrem Vorteil entwickelt. Sie befand sich auf dem Höhepunkt ihrer Macht, noch nie waren ihre Kräfte so groß gewesen. Zudem verfügte sie nun über einen Körper, der nahezu unverletzlich war, weder Schwäche noch Alter kannte. Ihre bisher nur relative Unsterblichkeit war zu wirklicher Unsterblichkeit geworden. Der Triumph war ein ungeheuer köstliches Hochgefühl.
Einen Moment spielte Melissa mit dem Gedanken, sich zu vergewissern, daß Vivian und Mark Taylor wirklich starben. Es wäre verhängnisvoll, wenn einem der beiden wider allen Erwartungen die Flucht aus der Kristallfestung gelingen sollte. Aber diese Chance war zu gering, um sich deshalb Sorgen zu machen. Kein Mensch war den Herren Morons gewachsen. In dieser Hinsicht machte sich auch Melissa nichts vor, selbst ihre Kraft reichte dazu nicht aus. Es wäre ein lebensgefährliches Unterfangen, sich der Kristallfestung auch nur zu nähern; ein völlig unnötiges Risiko, nur um Gewißheit über etwas zu erlangen, das unausweichlich war.
Wichtigere Aufgaben warteten auf sie.
Melissa drehte sich um, warf einen letzten nachdenklichen Blick auf die Stadt hinunter und ging dann langsam in entgegengesetzter Richtung davon.
Ulthar fuhr wütend herum, als er hörte, wie die Tür geöffnet wurde und jemand den Raum betrat.
Der eintretende Mann wirkte gehetzt. In seinen Augen flackerte Angst, und seine Bewegungen waren von einer fast starren, nur äußerster Kraft aufrechterhaltenen Ruhe.
»Was ist los?« fauchte Ulthar.
»Die Eindringlinge, Meister ...« begann der Mann vorsichtig. »Die beiden Menschen und unser entflohener Spiegelbruder ...«
»Was ist mit ihnen?«
»Sie ... sie sind entkommen«, sagte der Mann stockend.
»Was sagst du da?« Ulthar sprang wütend auf den Mann zu, riß ihn am Kragen zu sich heran und schüttelte ihn wie eine Katze. »Wie konnte das geschehen?« brüllte er.
»Ich ... ich weiß es nicht, Herr. Sie sind aus dem Labyrinth ausgebrochen und befinden sich im Spiegelsaal.«
Ulthar stieß den Mann mit einem zornigen Fluch von sich und fuhr herum. Sein magischer Spiegel erwachte zu schimmerndem Leben, als er mit den Fingerspitzen darüberfuhr. Ein Abbild des Spiegelsaales erschien. Ulthar entdeckte die drei Menschen sofort. Einen Herzschlag lang starrte er die winzigen Gestalten voll ohnmächtiger Wut an. »Bin ich denn nur von Versagern umgeben?«
Der Mann antwortete nicht, aber Ulthar konnte seine Angst überdeutlich spüren. Das Gefühl besänftigte seine Wut ein wenig. »Fangt sie!« befahl er. »Fangt sie und bringt sie unverzüglich hierher - und zwar lebend.«
»Sie ... sind sind gefährlich.«
»Das ist mir vollkommen egal!« brüllte der Magier. »Ich will sie haben - wenigstens diesen jungen Kerl und die Frau. Ich will wissen, wie sie es geschafft haben, aus dem Labyrinth zu entkommen!«