Выбрать главу

Das Spiegelwesen nickte, senkte den Blick und entfernte sich hastig.

Ulthar fluchte lautlos vor sich hin. Die negative Entwicklung, die er gespürt hatte, setzte sich fort. Er hatte viele Jahre Zeit gehabt, sich auf diesen Moment vorzubereiten, aber im gleichen Moment, in dem er Melissa endlich aufgespürt hatte, hatten sich die Ereignisse überschlagen, und ihm war kaum Zeit geblieben, sein Vorgehen gezielt zu planen. Statt selbst zu handeln, war er die meiste Zeit gezwungen gewesen, auf die Handlungen anderer zu reagieren, und dabei waren ihm zwangsläufig Fehler unterlaufen. Fehler, die nun Folgen zeigten, auch wenn Ulthar nicht damit gerechnet hätte, daß sie so folgenschwer ausfallen würden. Sein Imperium begann Stück für Stück auseinanderzufallen. Wenn er sich selbst gegenüber ehrlich war, hatten ihm die vergangenen Tage zwar einige Siege beschert, doch hatte er selbst sie am wenigsten herbeigeführt. Bislang war ihm noch keine Zeit geblieben, seinen neuerworbenen Einfluß über die Mächtigen der Stadt auszunutzen, und daß er sie überhaupt erworben hatte, war zwar zum Teil sein Verdienst gewesen, in erster Linie aber hatte er sie Conellys Fehlern zu verdanken. Nicht einmal dessen Tod konnte er sich selbst zugute halten.

Neben diesen kleinen Erfolgen jedoch hatte er nur noch eine Kette von Niederlagen zu verzeichnen, die immer verheerendere Formen annahm. Vivian Taylor war ihm gleich mehrfach entkommen, Melissas Befreiung war mißlungen, von Mark Taylor und dessen Begleitern, die er zur Verfolgung Vivians in die Spiegelwelt geschickt hatte, hatte er nichts mehr erfahren. Und zu allem Überfluß begann er die Gunst der Herren Morons zu verlieren, nachdem die drei Menschen ihnen durch das Zerschlagen so vieler Spiegel Schaden zugefügt hatten. Unbehaglich drehte Ulthar den Kopf und warf einen Blick zu dem roten Samtvorhang hinüber, bevor er sich wieder dem Abbild des Spiegelsaales zuwandte.

Er mußte dringend etwas unternehmen, mußte zeigen, daß er alle Fäden immer noch fest in der Hand hielt, um zu retten, was noch zu retten war. Es ging nicht mehr länger nur darum, seine Macht auszubauen oder wenigstens zu erhalten.

Es ging um seine Existenz.

Ulthar wußte, daß seine Leute im Grund nicht daran schuld waren, daß die drei den Fallen des Labyrinths entkommen waren. Selbst hier, im Zentrum seiner Macht, umgeben von den stärksten Schutzmaßnahmen, die er sich vorstellen konnte, spürte er die unsichtbare Kraft, die die drei Menschen schützte. Es war, als gäbe es noch ein viertes, ungeheuer mächtiges Etwas, das mit diesen drei Menschen in sein Reich eingedrungen war, ein körperloses Ding, das den Zauber seiner Spiegel zurückwarf.

Diese drei hatten kein Recht, hierzusein. Kein lebendes Wesen konnte die tödlichen Fallen überwinden, die zwischen dem Eingang und dem Spiegelsaal errichtet worden waren. Die Kammer, in der sie gefangen worden waren, stellte nur die letzte in einer ganzen Reihe tödlicher Fallgruben dar. Selbst Conellys Horden wären von den magischen Spiegeln gefangen und umgedreht worden, wenn der Monstermacher wirklich so dumm gewesen wäre, das Spiegelkabinett mit geballter Macht offen anzugreifen. Aber dieser junge Mann und das Mädchen hatten der Magie der Spiegel widerstanden. Es war, als existiere der Einfluß der Spiegel für sie nicht einmal.

Der Gedanke, daß diese beiden harmlos aussehenden Menschen die tödlichen Überraschungen der Spiegel nicht einmal bemerkt hatten, nicht einmal wußten, welchen Gefahren sie entgangen waren, versetzte Ulthar in rasende Wut. Er sah, wie ein halbes Dutzend seiner Spiegelbilder zum Leben erwachten; dunkle, schattenhafte Gestalten, die lautlos zwischen den mannshohen Spiegeln hindurchhuschten und die Eindringlinge einzukreisen begannen.

Ulthar lächelte häßlich. Vielleicht waren die beiden Menschen gegen magische Kräfte gefeit - aber der reinen Körperkraft seiner Sklaven würden sie unterliegen.

Mit einer wütenden Handbewegung löschte Ulthar das Bild und fuhr herum. Sein Blick streifte den Samtvorhang. Das Rot schien dunkler geworden zu sein; drohender. Der Vorhang hatte die Farbe geronnenen Blutes angenommen.

Und diesmal sah Ulthar ganz deutlich, daß er sich bewegte.

25

Es dämmerte, als Vivian erwachte. Sie spürte, daß sie nicht lange geschlafen haben konnte; ihre Augen fielen immer wieder zu, und sie hatte Mühe, aufzustehen und zum Fenster hinüberzuwanken. Der Korridor war in tiefes Dunkel getaucht, und die Silhouetten der Dinge vor dem Fenster waren zu flachen, schwarzweißen Umrissen geworden, vor denen nächtliche Schatten dahintrieben. Über den Dächern Manhattans schimmerte noch ein schmaler, grauer Streifen, aber in wenigen Minuten würde es stockdunkel sein.

Vivian begriff, daß sie schnellstens hier heraus mußte. Dieses irrsinnige Haus war schon am Tage gefährlich genug - in der Dunkelheit würde es zu einer tödlichen Falle werden, wenn sie die jäh aufklaffenden Abgründe nicht einmal mehr sehen könnte.

Sie ging zur Treppe zurück. Die morschen Holzstufen knarrten unter ihrem Gewicht. Sie erreichte die erste Etage und ging - vorsichtig an die Wand gepreßt und angstvoll darauf bedacht, nicht in den schon jetzt unsichtbaren Abgrund zu stürzen, der auf der rechten Seite des Korridors klaffte, und erreichte das Schlafzimmer, durch das sie hier heraufgekommen war. Sie wußte, daß sie die genaue Stelle nicht wiederfinden würde, an der sie durch die Schwärze geklettert war, und es wäre Wahnsinn, wenn sie sich blindlings durch die Schwärze in das tiefergelegene Stockwerk hinablassen würde. Die Gefahr, den schmalen Bodenstreifen zu verpassen und für immer im Nichts zu stranden, war viel zu groß.

Vivian zögerte einen Moment, ehe sie das Fenster aufschob und sich auf den Sims hinaustastete. Aber es gab keinen anderen Weg. Die Treppe, die von der zweiten Etage hier heruntergeführt hatte, endete wenige Stufen tiefer im Nichts. Wahrscheinlich besaß das Haus noch andere Ausgänge, aber Vivian wußte, daß es sinnlos war, bei der hier drinnen herrschenden Dunkelheit danach zu suchen. Glücklicherweise jedoch stammte das Haus aus einer Zeit, in der die Feuervorschriften der Stadt noch peinlich genau eingehalten worden waren. Neben dem Fenster war eine schmale, rostige Eisenleiter in die Wand eingelassen. Jedes Kind hätte mühelos daran hinunterklettern können.

Zumindest jedes Kind, das nicht an Höhenangst litt ...

Trotzdem hangelte sich Vivian Sprosse um Sprosse tiefer und atmete erleichtert auf, als sie den Boden erreicht hatte.

Sie blieb einen Augenblick reglos stehen und sah sich nach allen Seiten um, doch weder von Mark und seinen Begleitern noch von den anderen Spiegelwesen und ihren Bewachern war etwas zu entdecken. Langsam ging sie in die Richtung, in der diese verschwunden waren.

Sie war immer noch so mühe, als hätte sie überhaupt nicht geschlafen, und am liebsten hätte sie sich ein halbwegs sicheres Versteck für die Nacht gesucht, aber sie konnte nicht tatenlos herumsitzen und warten, daß der Gegner seinen nächsten Zug machte. Spätestens seit dem Auftauchen Marks war ihr klargeworden, daß Ulthar sie keineswegs vergessen hatte - im Gegenteil. Er führte die Jagd auf sie selbst hier genauso verbissen weiter. Vielleicht war sogar alles von ihm geplant gewesen, und sie hatte hierhin gelangen sollen. In der realen Welt hätte sie eine Chance gehabt, ihm zu entkommen, irgendwo unterzutauchen. Hier jedoch ...

Gleich darauf aber wurde ihr der Fehler in ihrer Denkweise bewußt. Auf eine Weise, die ihr noch nicht ganz klargeworden war, stand Ulthar mit dieser bizarren Welt hinter den Spiegeln in Verbindung. Wahrscheinlich bezog er von hier seine ungeheuren Kräfte, aber dennoch stand dieser Ort außerhalb seiner Kontrolle. Er verlor die Kontrolle über seine Geschöpfe, wie sie an Mark gesehen hatte. Dies brachte ihr keinen Vorteil, da sie es immer noch nur mit dem negativen Spiegelbild Marks zu tun hatte, das sie nun sogar töten wollte, statt sie nur gefangenzunehmen, aber ebensowenig brachte es Ulthar einen Vorteil. Sie wußte kaum etwas über den Magier, aber bislang hatte sie ihn als einen sehr vorsichtigen Mann kennengelernt, der alle Risiken so weit wie möglich auszuschalten versuchte. Sie hierher gelangen zu lassen, an einen Ort, an dem er wesentlich weniger Macht besaß als in seinem Kabinett, vergrößerte das Risiko für ihn jedoch nur, also lag dies keineswegs in seiner Absicht.