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Entweder wußte er kaum etwas über diese Welt, oder er mußte einen sehr triftigen Grund dafür haben, ihr seine Häscher sogar hierher nachzuschicken, obwohl die Gefahr bestand, daß er die Kontrolle über diese verlor. Die Gefahr, daß sie von den seinem Einfluß entronnenen Geschöpfen getötet wurde, erschien ihm anscheinend geringer, als sie hier frei herumlaufen zu lassen.

Vivian blieb unwillkürlich stehen und schaute sich noch einmal um. Sie begriff nicht, warum sie nicht schon früher darauf gekommen war. Wenn dies der Ort war, von dem Ulthar seine Macht über die Spiegel bezog, dann war dies wahrscheinlich auch der einzige Ort, von dem aus man ihm Schaden zufügen konnte. Irgendwo hier mußte es etwas geben, das ihm gefährlich werden konnte, und Vivian wußte auch, wo genau dies war. Es konnte sich nur um die Quelle dieser dumpfen, unmenschlichen Ausstrahlung handeln, die sie so überdeutlich spüren konnte, irgendwo vor ihr, im Zentrum der Stadt.

Sie ging weiter.

Irgendwo vor ihr zerschnitt ein gellender Schrei die Stille, leise und weit entfernt, aber fremdartig genug, um Vivian einen eisigen Schauer über den Rücken zu jagen. Das Bild der riesigen, grüngeschuppten Ungeheuer tauchte vor ihr auf. Vivian fror plötzlich, aber daran war nicht allein die nächtliche Kälte schuld.

Sie fragte sich, was aus Mark und den anderen geworden sein mochte. Es gehörte nicht viel Phantasie dazu, sich auszumalen, daß Masterton diesen gräßlichen, verzweifelten Schrei ausgestoßen hatte, weil die Wächter ihn entdeckt hatten, während er vor dem Haus stand und auf Mark wartete. Wahrscheinlich hatten sie ihn ebenso wie die willenlosen Spiegelwesen verschleppt, ihn und wahrscheinlich auch die anderen. Vivian empfand bei diesem Gedanken weder Befriedigung noch Erleichterung. Das Wesen, in das Mark sich verwandelt hatte, hatte sie zu töten versucht, aber es war dennoch Mark, auch wenn in dieser Kopie die negativen Eigenschaften seinen Charakter bestimmten. Was sie ängstigte, war nur der Gedanke, daß es möglicherweise auch auf den echten Mark Auswirkungen haben könnte, wenn seinem Spiegelbild hier etwas zustieß.

Sie schritt schneller aus. In der Dunkelheit wirkten die Häuser rechts und links der Straße noch bizarrer; riesige, schwammige aufgequollene Umrisse, die eine stumme Drohung auszustrahlen schienen. Vivian war plötzlich froh, daß sie nicht alle Einzelheiten erkennen konnte.

Die Straße wurde schmaler; gleichzeitig schienen die Häuser zu beiden Seiten an Höhe zu verlieren, als wären Stein und Beton aufgeweicht und zusammengesackt. Die Straße nahm mehr und mehr das Aussehen einer tiefen, von schwarzen, schimmernden Wänden begrenzten Schlucht an. Nur mit Mühe unterdrückte Vivian den Wunsch, wie ein verängstigtes kleines Mädchen einfach loszulaufen. Sie zog den Kopf zwischen die Schultern, rammte die Hände in die Jackentaschen und ging um die nächste Straßenbiegung.

Sie spürte, daß sie dem Zentrum der finsteren Ausstrahlung jetzt ganz nahe war, dennoch schrie sie entsetzt auf, als sie das Ding sah. Sie hatte versucht, sich in Gedanken, auf den Anblick vorzubereiten, aber was sie jetzt sah, war anders als alles, als sie sich vorzustellen vermocht hatte.

Die Häuser schienen in weitem Umkreis wie von einer ungeheuren Gewalt plattgewalzt zu sein. Ein runder, vielleicht eine Meile durchmessender Platz war entstanden, und in seinem Zentrum ...

Vivian wandte sich angeekelt ab und schloß die Augen, aber es nutzte nichts. Die wenigen Sekunden, die sie das Ding angesehen hatte, hatten gereicht. Der Anblick hatte sich wie ein glühendes Eisen in ihr Bewußtsein gebrannt; ein Bild, das so schrecklich und völlig verschieden von allem war, was menschliche Augen jemals gesehen hatten, daß es vielleicht ausgereicht hätte, um einen schwächeren Verstand als den Vivian Taylors durch seinen bloßen Anblick zerbrechen zu lassen. Auch sie spürte bereits die eisige Welle des Irrsinns, die aus ihrem Unterbewußtsein herausdrängte. Das Gebäude ähnelte einem gigantischen schwarzen Kristall. Seine Flanken schienen sich Hunderte von Metern weit in die Höhe zu erstrecken; ein Kaleidoskop aus schimmernden Facetten und schwarzem Wahnsinn.

Vivian drehte sich langsam um und zwang sich, noch einmal hinzusehen. Sie nahm die Hände von den Augen, senkte zunächst den Blick und ließ ihn dann vorsichtig, Stück für Stück, an den Flanken des riesigen Gebildes emporwandern. Nacht und Entfernung legten einen barmherzigen Schleier über die Umrisse des Monstrums, aber das wenige, das sie erkennen konnte, reichte aus, um sie bis ins Mark zu erschüttern.

Es war ein Gebäude. Jetzt, da sie genauer hinsah, konnte Vivian erkennen, daß es Öffnungen in den geschliffenen Facetten gab: Türen, Fenster und surrealistische, bizarre Balken und Erker, die einer kranken Phantasie entsprungen zu sein schienen. Der gesamte Koloß schien auf eine unmögliche, geistesverwirrende Art in sich selbst verdreht und gewunden zu sein. Blutrote Helligkeit schimmerte hinter einigen der Öffnungen hervor, pulsierendes, flackerndes Licht, das die Fremdartigkeit noch betonte. Hinter anderen schienen sich dunkle, grotesk geformte Schatten zu bewegen.

Vivian nahm all ihre Kraft zusammen und versuchte, auf die Kristallfestung zuzugehen. Es ging nicht. Ihr Körper weigerte sich einfach, ihr zu gehorchen. Sie versuchte es noch einmal, machte einen zögernden Schritt und blieb zitternd stehen. Die Entfernung zwischen ihr und dem Gebäude betrug nicht einmal zweihundert Meter - aber es hätten genauso gut zweihundert Lichtjahre sein können.

Es ging nicht.

Sie stöhnte, schloß die Augen und tastete sich blind weiter. Das grauenhaft verzerrte Bild der Kristallfestung stand noch immer vor ihren Augen, aber sie sah wenigstens keine weiteren Einzelheiten, als sie näher kam. Der Boden wurde zunehmend unebener. Sie stolperte, fiel auf Hände und Knie und kroch mühsam weiter, krampfhaft darum bemüht, nur nicht aufzusehen, den Blick nicht versehentlich auf das alptraumhafte, tödliche Bild zu lenken. Sie war sicher, daß der reine Anblick dieses Dinges sie töten oder zumindest in den Wahnsinn treiben würde. Plötzlich war sie dankbar dafür, während der Nacht hier hergekommen zu sein. Sie kroch weiter, stand schwankend auf und taumelte vorwärts. Alles in ihr revoltierte dagegen, auch nur noch einen einzigen Schritt in diese Richtung zu tun, aber ihr blieb keine andere Wahl. Dort vorne lag der einzige Ausgang, die einzige Verbindung zu der Welt, aus der sie gekommen war.

Irgendwann, nach einer Ewigkeit, wie es ihr erschien, tauchte eine schwarze Wand vor ihr auf. Sie prallte dagegen, stieß sich mit einem kleinen, spitzen Schrei wieder ab und betrachtete angeekelt ihre Hände. Sie brannten. Spritzer mit einer dunklen, schleimigen Flüssigkeit klebten an ihrer Haut. Sie wischte sich angewidert die Hände an der Hose ab und zwang sich dann, die Wand vor ihr noch einmal anzusehen. Nirgendwo waren Fugen zu erkennen; das Gebäude schien nicht aus einzelnen Steinen, sondern aus einer einzigen kompakten Masse gearbeitet zu sein. Es handelte sich um ein schwarzglitzerndes Material, das aus unmittelbarer Nähe noch deutlicher an stumpfen Kristall erinnerte. Es kam Vivian vor, als bestünde es aus nichts als gestaltgewordener Schwärze.

Sie hielt nach einem Eingang Ausschau. Rechts von ihr befand sich eine Art Tor - ein mannshohes, unregelmäßig geformtes Loch, das tiefer in das Kristallgebäude hineinzuführen schien. Sie bewegte sich vorsichtig darauf zu. Jetzt, da sie das Gebäude erreicht und sich endgültig dazu entschlossen hatte, in sein Inneres vorzudringen, schien der unsichtbare Widerstand, gegen den sie bisher angekämpft hatte, schwächer zu werden.