Der Eingang war unbewacht. Entweder, überlegte Vivian, gab es auf dieser Welt niemanden, der in das Gebäude eindringen würde, oder seine Besitzer fühlten sich so sicher, daß sie es nicht einmal für nötig hielten, Wachen aufzustellen. Vielleicht traf beides zu. Abgesehen von Mark und seinen Begleitern waren die willenlosen Spiegelgeschöpfe die einzigen auch nur menschenähnlichen Wesen, die sie bislang in dieser Welt gesehen hatte, und selbst wenn es noch andere gab - wer würde schon so verrückt sein, freiwillig in diesen materialisierten Alptraum einzudringen? Überhaupt mußte sie aufhören, menschliche Logik, menschliche Reaktionen und Handlungen vorauszusetzen.
Die Form des Eingangs erinnerte sie ein wenig an einen gierig aufgerissenen Raubtierrachen. Vorsichtig spähte Vivian in den Gang. Rötliches, unangenehmes Licht erhellte seine Umrisse nur verschwommen. Der Gang besaß keine regelmäßige Form, sondern wand sich in irrsinnigen Windungen tiefer in das Gebäude. Wände und Decke schienen von purem Zufall geformt worden zu sein, waren wellig und aufgeworfen, und der Boden war mit unzähligen Rissen und Kratern übersät, aus denen heller, übelriechender Dampf quoll. Überall befanden sich bizarre Vorsprünge und Nischen, und von der Decke hingen skurril geformte Stalagtiten herab, Gebilde, die wie riesige, erstarrte Tropfen aussahen oder einfach große, unregelmäßig geformte Löcher, die ins Nirgendwo zu führen schienen. Ein dumpfes, rhythmisches Pochen, das an den Schlag eines gigantischen Herzens erinnerte, drang aus den Tiefen des Gebäudes. Vivian atmete tief ein, nahm all ihren Mut zusammen und betrat den Stollen. Der Boden war weich und federte unter ihrem Gewicht. Sie spürte eine leise, vibrierende Bewegung, die im Takt mit dem pochenden Geräusch zu schwingen schien. Das Ganze erinnerte sie auf unbestimmbare Weise an etwas, das ihr seltsam bekannt und vertraut vorkam, etwas, mit dem sie das Gefühl von Gefahr und Bedrohung verband, das sie aber nicht einzuordnen vermochte.
Vivian machte einen zaghaften Schritt, dann noch einen. Das Gefühl der Bösartigkeit, das ihr entgegenschlug, grenzte fast an körperlichen Schmerz, dennoch zwang sie sich, weiter einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Nach ein paar Metern machte der Gang einen Knick und endete ein Stück weiter. Vivian gelangte in einen großen, saalähnlichen Raum, dessen Decke sich irgendwo über ihrem Kopf in Schatten und wogendem Dunst verlor. An den Wänden entlang waren über ein Dutzend große, grotesk geformte Statuen aufgereiht.
Vivian blieb einen Augenblick lang unschlüssig stehen und schaute sich um. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß die Beherrscher dieser Welt so unvorsichtig waren und keinerlei Wachen aufstellten, aber außer ihr schien sich kein lebendes Wesen auf dem Hof aufzuhalten. Trotzdem spürte sie die Gefahr, die von diesen schwarzen, kristallenen Wänden ausging.
Erst jetzt bemerkte sie, daß es außer dem Gang, durch den sie gekommen war, keinen weiteren Ausgang gab.
Sie trat neugierig an eine der Statuen heran und musterte sie mit einer Mischung aus morbider Faszination und Ekel. Die Gestalt stellte ein Wesen dar, wie es noch kein Mensch zu Gesicht bekommen hatte. Es war etwa anderthalb Meter groß und ungeheuer massig. Drei kurze, stämmige Beine trugen einen tonnenförmigen, kopflosen Rumpf, der über und über mit spitzen Stacheln bewachsen war. Aus der Körpermitte heraus starrte ein einziges, lidloses Auge zu Vivian herauf. Das Ding hatte zwei lange, fast menschlich wirkende Arme, die in fürchterlichen Klauenhänden endeten.
Eine fast durchsichtige, schleimig glänzende Substanz bedeckte die gesamte Oberfläche der Statue, als wäre sie in eine Art Kunststoffhülle verpackt.
Vivian schauderte. Wer immer dieses Ding erschaffen hatte, mußte über eine geradezu krankhafte Phantasie verfügen.
Sie wandte sich mit einem Ruck von der Skulptur ab und ging zur nächsten. Kaum eine der Statuen ähnelte der anderen, jede schien ein anderes Lebewesen zu zeigen, eine neue Scheußlichkeit, die ihren Vorgänger noch zu übertreffen suchte, und alle waren von dieser schleimigen Substanz überzogen. Jemand hatte hier ein Kabinett des Grauens erschaffen, eine Sammlung, deren Ziel es zu sein schien, die fürchterlichsten Erscheinungsformen des Lebens zu versammeln. Die Statuen sahen zudem so ungeheuer lebensecht aus, daß Vivian einen Moment lang ernsthaft überlegte, ob sie nicht vielleicht mehr als eine bloße Skulpturensammlung sah.
Eine der Figuren erregte ihre besondere Aufmerksamkeit. Das Wesen kam ihr auf eine seltsam erschreckende Weise bekannt vor. Es war riesig - vielleicht zweieinhalb Meter groß, ungeheuer breitschultrig und massig. Die Haut war über und über mit kleinen, schimmernden Schuppen bedeckt, und aus seinem Kopf wuchs eine bizarre Ansammlung scheinbar zufällig geformter Spitzen und Schneiden. Arm- und Kniegelenke waren mit langen, hornigen Stacheln versehen. Die Statue stellte eines der Wächterwesen dar, die sie in der Stadt gesehen hatte.
Vivian prallte erschrocken zurück, sog scharf die Luft ein und kämpfte mühsam um ihre Beherrschung, aber auch diese Gestalt war keine Wache, sondern nur eine leblose, aus der schwarzen Kristallmasse geformte Skulptur.
Ein leises, scharrendes Geräusch hinter ihr ließ Vivian herumfahren. Ein Stück entfernt öffnete sich in der Wand vor ihr ein unregelmäßig geformter Durchgang. Schwarzer, von dunkelroten Blitzen durchwobener Dampf quoll daraus hervor. Der Boden vibrierte leicht.
Ein großer, düsterer Schatten bewegte sich unruhig inmitten des Durchgangs. Ein haariges, dünnes Etwas stach aus dem wogenden Dampf hervor und zog sich blitzartig wieder zurück. Dann schob sich ein riesiger, mißgestalteter Körper ins Freie.
Vivian schrie auf, als sie erkannte, was sich ihr da näherte. Es war eine Spinne, zumindest ein Wesen, das einer irdischen Spinne verblüffend ähnlich war. Es gab im Grunde nur zwei Unterschiede. Sie hatte zehn Bein statt acht - und war mehr als drei Meter groß.
Vivian wich Schritt für Schritt zurück, während sich das Monster aus kleinen, boshaften Augen umsah und seine Umgebung zu erkunden schien. Die kräftigen, fast unterarmlangen Mandibeln mahlten gierig. Heller Schleim tropfte aus dem Maul der Bestie und verdampfte zischend am Boden. Mit langsamen, beinahe gemächlich wirkenden Bewegungen krabbelte die Spinne näher. Ihre Beine bewegten sich in einem komplizierten Rhythmus, und der lauernde, gierige Ausdruck in ihren schimmernden Kristallaugen ließ sie fast menschlich erscheinen.
Vivian preßte sich eng gegen die glatte Wand. Ihre Finger fuhren nervös über das kristallharte Material, während sie verzweifelt nach einem Ausweg suchte. Keine der Öffnungen in den Wänden war groß genug, daß sie hindurchkriechen konnte; der einzige Ausgang aus dem gewaltigen Raum war der Gang, durch den sie gekommen war - oder der Durchgang direkt hinter der Spinne. Um diesen Gang jedoch zu erreichen, mußte sie die Bestie zunächst besiegen, und schon der bloße Gedanke daran erschien Vivian absurd. Sie hatte keinerlei Waffen, und das Ungeheuer hatte eine Spannweite von mehr als drei Metern. Der Körper allein maß mindestens achtzig Zentimeter, und die langen, messerscharfen Fänge sahen aus, als könnten sie einen menschlichen Körper mit einem einzigen Biß zerteilen.
Trotzdem zögerte die Bestie noch. Sie krabbelte langsam näher, verharrte etwa zwei Meter vor Vivian und musterte sie aus kleinen, boshaften Augen. Die feinen Härchen auf ihrem Körper bewegten sich wie unter einem unsichtbaren Wind, und die hornigen Krallen am Ende ihrer zehn Beine scharrten im Sand. Es klang, als zöge man mit dem Fingernagel über eine Schiefertafel.
Vivian fragte sich, warum das Monstrum zögerte, sich einfach aus sie zu stürzen. Sie drängte den aufkommenden Ekel zurück und zwang sich, das Tier mit fast wissenschaftlichem Interesse anzusehen. Es mußte einen ganz bestimmten Grund für das sonderbare Verhalten des Ungeheuers geben. Vivian wußte, wie stark Spinnen im Verhältnis zu ihrer Körpergröße waren. Ein solcher Koloß mußte es an Kräften mit jedem beliebigen Gegner aufnehmen können. Statt dessen beschränkte sich das Ungeheuer darauf, sie zurückzudrängen. Vivian bewegte sich ein Stück nach rechts. Die Spinne folgte ihrer Bewegung, ohne näher zu kommen. Ihre Kiefer klackten nervös.