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Und dann plötzlich begriff Vivian. Die Aufgabe des Ungeheuers war es in erster Linie, den Durchgang zu bewachen. Je weiter es sich in den Raum hinausbewegte, desto größer war die Gefahr, daß sie es umrundete und die Öffnung in der Wand erreichte.

Vivian warf einen sehnsüchtigen Blick auf den Durchgang, durch den sie gekommen war. Noch könnte sie fliehen, aber was dann? Sie zweifelte nicht daran, daß es - wenn überhaupt - den einzigen Rückweg in ihre Welt tiefer im Inneren des Kristalls gab. Wenn sie floh, war sie für immer hier gefangen, ständig auf der Flucht vor den gepanzerten Kreaturen, und irgendwann würden diese Wächter sie erwischen. Nein, eine Flucht war keine Alternative. Selbst ein rascher Tod durch das Spinnenungeheuer erschien ihr noch gnädiger als ein Leben als Gejagte in dieser entsetzlichen Welt. Ihre einzige Chance bestand darin, das Ungeheuer zu täuschen und den Durchgang zu erreichen.

Sie wich weiter nach rechts aus. Das Monstrum folgte ihrer Bewegung auch diesmal, darauf bedacht, direkt zwischen ihr und dem Durchgang zu bleiben. Das Klacken der Kiefer wurde schneller und klang jetzt fast rhythmisch. Die Spinne drückte die hinteren drei Beinpaare durch und stemmte den Hinterleib in die Höhe. Ein dünner, glitzernder Schleimfaden tropfte aus ihren Drüsen.

Vivian erkannte die Gefahr fast zu spät. Das Tier zischte, schien sich in ein wirbelndes Chaos aus haarigen Beinen und reiner Bewegung aufzulösen und sprang auf sie zu. Aus ihrem Hinterleib zuckte ein fast fingerdicker, weißer Faden auf Vivians Gesicht zu.

Vivian ließ sich im letzten Moment fallen und rollte gleichzeitig herum. Der Faden klebte dort, wo er gegen die Wand geprallt war. Er spannte sich, als das Rieseninsekt zurückkrabbelte.

Vorsichtig stand sie auf, während die Spinne geschickt mit den hinteren vier Beinen nach dem Faden griff, ihn abriß und am Boden befestigte. Im schwachen, rötlichen Licht glänzte er schleimig, war aber ansonsten kaum zu sehen. Trotzdem wußte Vivian, daß sie ihn auf keinen Fall berühren durfte. Schon in der realen Welt waren Spinnweben im Vergleich zu ihrem winzigen Durchmesser ungeheuer stark.

Vivians Blick irrte zu den Statuen an der Wand, und plötzlich wußte sie, woran der Faden sie erinnerte. Die Spinne mußte die Skulpturen in diese schleimig glänzende Substanz gehüllt haben, die sie gesehen hatte.

Wenn es wirklich nur Skulpturen waren. Spinnen pflegten ihre Opfer in einen Kokon einzuspinnen.

Der Gedanke, daß es sich bei den Gestalten einst um lebende Wesen gehandelt haben könnte, ließ Vivian schaudern. Möglicherweise hatten die Wesen wie sie versucht, in den Kristall einzudringen und waren auf den Spinnenwächter getroffen.

Sie wich erneut zur Wand zurück und erwartete den nächsten Angriff des Monsters. Die Spinne schien es damit nicht sonderlich eilig zu haben. Offensichtlich war sie sich ihrer Beute vollkommen sicher. Sie befestigte einen zweiten Faden an der Wand, zupfte daran, als wollte sie seine Festigkeit überprüfen und klebte ihn schließlich neben dem ersten am Boden fest, so, daß beide eine Barriere vor dem Durchgang bildeten. Dann fuhr sie herum, musterte Vivian fast spöttisch und huschte auf wirbelnden Beinen auf sie zu.

Diesmal war Vivian vorbereitet. Als der Hinterleib der Spinne herumzuckte, warf sie sich gedankenschnell zur Seite und entging dem heranzuckenden Seidenfaden.

Es war fast zu leicht. Das Ende des Fadens klatschte mehr als einen Meter neben ihr gegen die Wand und blieb kleben. Sekunden später folgte ihm ein zweiter. Erst jetzt erkannte Vivian die Methode, die hinter dem Vorgehen des Ungeheuers steckte. Die Spinne hatte gar nicht vor, sie unmittelbar zu attackieren. Aber sie hatte Vivian bereits eingeschlossen. Zwischen den jeweils zwei Fäden blieben ihr höchstens fünf Meter freier Raum. Einen Augenblick lang überlegte sie, welche Chancen sie bei einem direkten Ausbruchsversuch hatte. Aber sie hatte gesehen, wie unglaublich schnell ihre Gegnerin war.

Die Spinne verharrte einen Augenblick lang reglos, huschte dann auf wirbelnden Beinen an Vivian vorüber und fügte einen weiteren Faden zu den beiden ersten. Ihr Gewebe war von fast mathematischer Präzision. Die drei Fäden waren in einem so geschickten Winkel zueinander angeordnet, daß ein Entkommen an dieser Seite praktisch unmöglich war, ohne einen der Fäden zu berühren.

Vivian ging in die Knie, hob einen kleinen Stein auf und warf ihn kraftvoll nach den Fäden. Er streifte einen Faden, brachte ihn zum Schwingen und blieb trotz der Wucht, mit der sie geworden hatte, daran kleben.

Vivian ballte in hilfloser Wut die Fäuste. Das Ungeheuer krabbelte unablässig vor ihr her und fügte Faden an Faden zu ihrem Netz. Wenn sie weiter tatenlos zusah, würde sie in wenigen Augenblicken in einer Viertelkugel aus dünnen, tödlichen Fäden eingeschlossen sein. Die Spinne brauchte dann nur noch zu warten, bis ihr Opfer verdurstet war - oder sich in einem selbstmörderischen Ausbruchsversuch selbst vernichtete.

Vivian sah sich verzweifelt nach einer Waffe um, aber es gab nichts. Sie zögerte noch einen Moment, dann atmete sie tief ein und stürzte sich mit einer entschlossenen Bewegung auf das Monstrum. Gegen die Aussicht, lebendig eingesponnen und ausgehungert zu werden, erschien ihr sogar der Tod unter den Fängen der Riesenspinne wie eine Gnade.

Das Monstrum reagierte mit unglaublicher Schnelligkeit. Es fuhr herum, richtete sich auf die hinteren sechs Beine auf und schlug wütend nach Vivian. In dieser Stellung überragte es sein Opfer um mehr als das Doppelte.

Vivian tauchte unter den zupackenden Kiefern weg, warf sich zur Seite und trat noch im Fallen nach den haarigen Beinen des Ungetüms. Ihr Fuß traf eines der Beine mit vernichtender Wucht.

Das Bein brach ab.

Die Spinne stieß ein hohes, zischendes Geräusch aus und hüpfte mit einer fast komisch aussehenden Bewegung zurück. Der abgebrochene Beinstumpf zuckte, als wäre er von eigenständigem Leben erfüllt. Schwarzes Blut sickerte daraus hervor und bildete eine stinkende Lache.

Vivian war völlig verblüfft. Mit einer solchen Wirkung hatte sie nicht gerechnet. Ihr Tritt war nicht sonderlich hart gewesen, nur eine instinktive Abwehrreaktion. Sie war zwar körperlich durchtrainiert, aber nicht übermäßig stark, und nach allem, was sie durchgemacht hatte, fühlte sie sich so ausgelaugt, daß sie froh war, sich überhaupt noch auf den Beinen halten zu können.

Sie stand auf, wich zwei, drei Schritte zurück und blieb stehen. Ihre Nerven schienen vor Anspannung zu vibrieren. Das Spinnenmonstrum mußte unglaublich zerbrechlich sein. Deshalb also scheute es den direkten Angriff. Sein Körper schien nur aus weichem, verwundbarem Plasma zu bestehen, das von einer hauchdünnen, zerbrechlichen Chitinschicht umgeben war.

Langsam kam es näher. Seine Augen funkelten boshaft, und die Kiefer waren weit und gierig geöffnet. Das Ungeheuer war verletzt, aber der Schmerz schien seine Wucht erst richtig anzustacheln. Es war immer noch gefährlich, vielleicht sogar gefährlicher als vorher.

Vivian tänzelte vorsichtig vor der Spinne auf und ab. Das Monstrum machte eine zaghafte Bewegung und prallte sofort zurück, als Vivian ihrerseits vorsprang. Es schien seine eigene Verwundbarkeit sehr gut zu kennen.

Aber Vivian war sich darüber im klaren, daß sie diese Taktik nicht lange durchhalten würde. Ihre Bewegungen wurden jetzt schon langsamer und mühevoller, und die Spinne war unglaublich schnell. Früher oder später würde sie einen Fehler machen.

Sie brauchte unbedingt eine Waffe. Erneut irrte ihr Blick zu den Statuen. Einige von ihnen trugen Schwerter oder vergleichbare Waffen, doch auch sie waren von der schleimigen Substanz eingehüllt und damit für sie unbrauchbar, selbst es ihr überhaupt gelingen sollte, bis zu den Statuen zu gelangen.

Es war Vivian ein Rätsel, wie all diese Wesen von der Spinne besiegt worden waren. Es befanden sich wahre Giganten darunter, Titanen, die bis an die Zähne bewaffnet waren. Dennoch waren sie alle ein Opfer der Spinne geworden. Möglicherweise hatten sie sich überschätzt. Sich - oder die Spinne.