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Sah man von seiner Kraft und seiner Größe ab, stellte das Monstrum wegen seiner Verletzlichkeit für einen schwerbewaffneten Gegner eigentlich keine übermäßig große Gefahr dar. Viel verheerender jedoch war seine psychologische Wirkung. Wer einem solchen Koloß gegenüberstand, der dachte vermutlich erst gar nicht mehr ans Kämpfen. Auch Vivian hatte nicht vorgehabt, sich auf einen Kampf einzulassen, sondern wollte dem Ungetüm nur ausweichen und versuchen, an ihm vorbeizukommen, weil sie von vornherein geglaubt hatte, keine Chance zu haben. Es war purer Zufall, daß sie entdeckt hatte, wie verletzlich die Spinne war, und daß es ihr überhaupt bewußt geworden war, hatte sie nur ihrer Wendigkeit zu verdanken. Vielleicht waren die anderen Wesen durch ihre schwere Panzerung zu stark behindert und deshalb leichte Beute gewesen, oder sie waren vor Angst so gelähmt gewesen, daß das Monstrum sie in ihrem Netz einspinnen konnte, bevor es überhaupt zu einem Kampf gekommen war.

Vivians Blick fiel auf das abgeschlagene Spinnenbein. Das Blut hatte aufgehört, daraus hervorzusprudeln und war zu einer schwarzen Masse erstarrt. Bei dem Gedanken, das ekelhafte Ding anzufassen, drehte sich ihr der Magen um, aber sie hatte keine andere Wahl. Das Bein war der einzige erreichbare Gegenstand, der sich zur Verteidigung benutzen ließ.

Vivian täuschte nach links an, federte dann mitten in der Bewegung nach rechts herum und griff noch im Fallen nach dem Bein. Die Spinne fiel auf die Finte herein und huschte in entgegengesetzter Richtung davon. Aber Vivian hatte ihre Kräfte unterschätzt. Sie prallte mehr als einen Meter vor dem Spinnenbein auf und blieb einen Herzschlag lang benommen liegen. Der Schmerz trieb ihr die Tränen in die Augen, aber sie griff blind nach vorne, und ihre Finger schlossen sich um etwas Hartes, Haariges.

Sie versuchte hochzukommen, bekam einen harten Stoß in den Rücken und riß automatisch die Hände vors Gesicht. Die Spinne hockte groß und häßlich über ihr. Ihre Augen funkelten vor Mordlust, und die weit geöffneten Kiefer zuckten gierig nach Vivians Kehle. Vivian dachte in diesem Augenblick nicht mehr, sondern handelte rein instinktiv. Sie bäumte sich auf, zog die Beine an und rammte sie dem Ungeheuer mit aller Kraft in den Leib.

Die Spinne wurde regelrecht von Vivian wegkatapultiert und segelte drei, vier Meter weit durch die Luft, bevor sie mit einem knirschenden Geräusch aufprallte.

Vivian richtete sich stöhnend auf. Sie durfte nicht aufgeben. Mühsam taumelte sie auf das Monstrum zu.

Das Ungeheuer krabbelte ihr schwerfällig entgegen. Der Aufprall schien es halb betäubt zu haben. Seine Kiefer schnappten ungelenk in Vivians Richtung. Die Beine schlugen wütend, aber die Bewegungen waren so unkontrolliert, daß Vivian keine Mühe hatte, ihnen auszuweichen.

Sie blieb mit zitternden Knien stehen, musterte ihre Gegnerin und sprang dann mit einem wütenden Schrei vor. Die Spinne antwortete mit einem ängstlichen Zischen. Sie fuhr herum, fegte Vivian von den Füßen und versuchte zu fliehen, aber sie schien schwerer verletzt zu sein, als es zunächst aussah. Der schaukelnde, majestätische Gang war in ein ungeschicktes Stolpern übergegangen, und aus ihrem Hinterleib tropfte schwarzes Blut.

Vivian sprang auf, holte das Ungeheuer ein und warf sich mit ihrem ganzen Körpergewicht darauf. Die Beine der Kreatur knickten wie Streichhölzer weg. Die Spinne stürzte in den Sand, zischte jämmerlich und wälzte sich herum. Ihre blutenden Beinstümpfe schienen anklagend in die Luft zu deuten, und in ihren Augen stand ein schmerzerfüllter, fast vorwurfsvoller Ausdruck.

Vivian holte mit dem Spinnenbein aus und ließ es wuchtig auf den Kopf der Kreatur niedersausen. Das Spinnenbein zerbrach unter der Wucht des Schlages. Vivian taumelte vorwärts, fiel schwer auf Hände und Knie und verharrte einen Augenblick lang reglos. Übelkeit wallte in ihr empor, gepaart mit Ekel und einer fast unüberwindlichen Müdigkeit. Nur unter Aufbietung aller Kräfte gelang es ihr, die Augen zu öffnen und sich in eine sitzende Position emporzuarbeiten.

Die Spinne war tot. Der dünne Chitinpanzer war unter Vivians Schlag aufgeplatzt. Graues, schleimiges Plasma quoll aus der Wunde und vermischte sich mit dem schwarzen Dämonenblut des Ungeheuers, bis sich die Überreste des Monstrums in einen gewaltigen, zuckenden Schleimklumpen verwandelt hatte.

Der Anblick war zuviel für Vivian. Sie stöhnte, wandte sich ab und übergab sich, aber da sie seit Tagen kaum etwas gegessen hatte, würgte sie nur bittere Galle hervor, die wie Säure in ihrem Mund brannte.

Als sie sich wieder aufrichtete, hatte sich das schleimige Ding, das einmal die Spinne gewesen war, verwandelt. Das Plasma hatte sich zu einem tonnenförmigen, haarigen Leib geformt, aus dem langsam, wie in Zeitlupe, dünne Extremitäten zu wachsen begannen.

Die Spinne entstand neu!

Zwei, drei Herzschläge lang starrte Vivian das widerwärtige Bild an, dann wich sie zitternd zurück. Unendlich vorsichtig kroch sie auf dem Bauch liegend unter den Spinnenfäden hindurch, die den Durchgang versperrten, und blieb ausgelaugt liegen. Wieder spürte sie die Müdigkeit und Erschöpfung wie eine dunkle Welle über sich zusammenschlagen. Sie hatte kaum noch die Kraft, die Arme zu heben. Alles, was sie wollte, war Schlaf, ein paar Stunden Ruhe und Erholung. Die Verlockung, einfach auf dem unebenen Boden liegenzubleiben und ihrem Körper ein paar Augenblicke der Erholung zu gönnen, wurde übermächtig, aber sie wußte, daß sie nie wieder erwachen würde, wenn sie jetzt einschlief.

Mühsam richtete sie sich auf und taumelte tiefer in den Gang hinein.

Mary-Lou hatte nicht einmal die Zeit, eine Warnung auszustoßen.

Sie bemerkte ein schattenhaftes, nur halb wahrgenommenes Huschen irgendwo schräg hinter ihr; eine verschwommene Bewegung, die zu schnell war, als daß sie noch rechtzeitig hätte reagieren können. Dennoch öffnete sie den Mund, um zu schreien, aber in diesem Augenblick gingen Sheldon und Jeremy bereits unter den Leibern der Angreifer zu Boden. Auch sie selbst spürte einen harten, schmerzhaften Stoß im Rücken, taumelte vorwärts und fiel auf die Knie. Durch die Bewegung wurde der Mann, der sie von hinten packen wollte, über sie hinweggeschleudert. Er überschlug sich, prallte schwer auf den Rücken und kam mit einer geschmeidigen Bewegung wieder hoch.

Mary-Lou versuchte verbissen, sich mit der Spiegelscherbe zu verteidigen, mit der sie sich bewaffnet hatte. Aber ihr Gegner schien die Gefahr, die von dem unscheinbaren Glasstück ausging, genau zu spüren. Er sprang vor, trat nach ihrer Hand, so daß sie die Scherbe fallenlassen mußte, und warf sich mit seinem ganzen Körpergewicht auf Mary-Lou. Erneut wurde sie zu Boden geschleudert. Der Aufprall raubte ihr fast das Bewußtsein. Sie stöhnte, machte ein paar schwache Abwehrbewegungen und versuchte den Körper des Mannes, der wie eine Zentnerlast auf ihrer Brust lag, abzuschütteln. Die einzige Reaktion bestand in einem brutalen Schlag, der ihren Widerstand endgültig brach.

Der Kampflärm neben ihr wurde schwächer. Jeremy hatte ebenfalls aufgehört, sich zu wehren, und auch Sheldons Kräfte schienen nachzulassen. Der ganze Kampf war in weniger als drei Minuten vorüber. Mary-Lou wurde auf die Füße gerissen. Ein Stoß in den Rücken trieb sie vorwärts. Hinter ihr wurden Sheldon und Jeremy jeweils von zwei der Spiegelwesen flankiert.

»Vorwärts«, kommandierte einer der Männer. »Ulthar möchte euch sehen.«

»Das beruht auf Gegenseitigkeit«, knurrte Sheldon.

Einer der Wächter quittierte diese Bemerkung mit einem Ellbogenstoß, der Sheldon nach Luft schnappen ließ. »Ihr redet nur, wenn ihr angesprochen werdet.«

Der Weg führte in einem scheinbar sinnlosen Zickzack-Kurs zwischen den Spiegeln hindurch. Der Boden schien zum Hintergrund der Halle hin leicht anzusteigen, aber vielleicht kam es Mary-Lou auch nur so vor, als fiele ihr das Gehen mit jedem Schritt schwerer. Sie wußte, daß der Weg in den Tod führte, und wenn nicht in den Tod, so doch in ewige Gefangenschaft; aber der Gedanke, für alle Zeiten in einen der Spiegel verbannt zu werden, erschien ihr fast schlimmer.