Mary-Lou sah sich verzweifelt nach einer Fluchtmöglichkeit um, doch sie erkannte sehr schnell, daß ihre beiden Bewacher ihr keine Chance lassen würden. Sie waren schneller und stärker als sie, und sie hatten den Vorteil, sich hier auszukennen. Ein Fluchtversuch war sinnlos. Selbst wenn sie Ulthars Häschern entkam, würde sie den Ausgang aus diesem Labyrinth niemals finden.
Dieser Teil des Spiegellabyrinths war fast noch bizarrer als die endlosen Gänge, durch die sie hergekommen waren. Es war ein gespenstischer Anblick: große, in schmale Silberrahmen gefaßte Spiegel, in denen Opfer gefangen waren. Sie wirkten wie riesige, lebensechte Fotos, genaue Abbilder lebender Menschen, die mitten in der Bewegung erstarrt zu sein schienen. Das einzige Lebendige an ihnen waren die Augen. Mary-Lou glaubte einen Ausdruck tiefster Verzweiflung darin zu lesen, einen schwachen Abglanz der Qual, die diese unschuldigen Menschen erleiden mußten.
Sie stutzte, als ihr Blick auf einen der Spiegel fiel. Der Mann darin war der gleiche, der Sheldons rechten Arm umklammert hielt.
Mary-Lou wußte hinterher nicht mehr, wie sie auf die Idee gekommen war. Sie wußte auch nicht, wie sie es trotz der ungeheuer schnellen Reflexe ihrer Bewacher geschafft hatte, sich loszureißen und auf den Spiegel zuzustürmen. Es war ein aussichtsloser, verzweifelter Versuch, aber in aussichtslosen Situationen reagiert man manchmal, ohne zu denken. Sie lief mit zwei, drei Schritten auf den Spiegel zu, schloß im letzten Moment die Augen und warf sich mit aller Kraft gegen das Glas.
Hinter ihr erscholl ein vielstimmiger, entsetzter Aufschrei. Eine unmenschlich starke Hand griff nach ihrer Schulter und riß sie mitten in der Bewegung zurück, aber es war zu spät, um das Unheil aufzuhalten. Der Spiegel kippte langsam nach vorn, schien eine Zehntelsekunde reglos in der Luft zu hängen und zersplitterte dann auf dem Boden.
Im gleichen Augenblick zerbrach der Mann an Marks Seite. Ein hoher, schriller Ton erfüllte die Luft, und für einen winzigen Augenblick huschte ungläubiges Entsetzen über das Gesicht des Mannes, dann fiel er langsam zur Seite. Noch in der Luft zerfiel sein Körper in Tausende gläserner Bruchstücke.
Sheldon reagierte augenblicklich. Er nutzte die Überraschung seines anderen Bewachers aus, um sich loßzureißen, seine Kette aus der Tasche zu ziehen und damit zuzuschlagen. Der schwirrende Stahl schleuderte den Mann zurück, als er nachsetzen wollte. Er stand zwar sofort wieder auf, aber die wenigen Sekunden genügten Sheldon. Er stürmte los, riß im Vorüberlaufen einen von Jeremys Bewachern von den Füßen und ließ seine Kette mit wilder Entschlossenheit zwei-, dreimal hintereinander wahllos in die umstehenden Spiegel krachen.
Einer der Männer neben Mary-Lou explodierte. Sein Körper schien sich von einer Sekunde auf die andere in zerberstendes Glas zu verwandeln. Mary-Lou wich aufschreiend zurück und schlug die Hände vors Gesicht, als sie von einem Hagel kleiner, scharfkantiger Glassplitter überschüttet wurde.
»Keine Bewegung!« schrie Sheldon. Er stand breitbeinig zwischen den Spiegeln, ließ die Kette über seinem Kopf kreisen und funkelte die Angreifer wütend an. »Wenn ihr noch einen Schritt macht, schlage ich hier alles kurz und klein.«
Die Männer zögerten.
»Mary-Lou, Jeremy - kommt hierher«, befahl Sheldon.
Jeremy Cramer setzte sich zögernd in Bewegung und nahm hinter Porter Aufstellung. Mary-Lou postierte sich auf der anderen Seite. »Wenn sie irgend etwas versuchen, zerschlagt ihr alles, was auch nur entfernt an einen Spiegel erinnert«, wies Sheldon sie an.
Mary-Lou nickte impulsiv. Sie wußte, daß sie im Ernstfall keine Chance gegen die vier Männer hatten, aber sie hatten immer noch Zeit, vielleicht ein halbes Dutzend Spiegel zu zerstören. Offensichtlich schreckten die Angreifer vor diesem Risiko zurück - zumal der Spiegel darunter sein könnte, von dem ihr Leben abhing.
»Was versprecht ihr euch davon?« sagte einer der Männer. »Glaubt ihr im Ernst, ihr kommt hier heraus?«
Sheldon zuckte mit den Achseln. »Vielleicht.«
Einer der Männer machte einen Schritt. Sheldon ließ das Ende seiner Kette spielerisch nach einem Spiegel züngeln. Der Mann zuckte zusammen und wich hastig zurück. »Irgendwann werdet ihr müde.«
Sheldon grinste. »Möglich. Aber ich habe nicht vor, so lange zu warten. Ihr habt einen Auftrag bekommen, und genau den sollt ihr auch ausführen. Ich möchte, daß ihr uns zu Ulthar bringt.«
Cramer stöhnte erschrocken auf. »Sie wollen ...«
»Ganz recht«, sagte Sheldon, ohne die vier Spiegelwesen aus den Augen zu lassen. »Ich will diesen Ulthar sehen. Ich habe noch eine kleine Rechnung mit ihm zu begleichen.«
»Sie sind verrückt. Sie laufen direkt in die Höhle des Löwen.«
Sheldon lächelte kalt. »Da sind wir schon lange drin, mein Lieber. Oder bilden Sie sich wirklich ein, hier herauszukommen?« Er wechselte die Kette von der rechten in die linke Hand, bückte sich und hob eine spitze Scherbe auf. Dann winkte er einen der Männer zu sich heran.
Das Spiegelwesen gehorchte zögernd. Mary-Lou bildete sich ein, auf seinem Gesicht so etwas wie Angst zu sehen. Sheldon bedeutete dem Mann mit einer Geste, sich herumzudrehen und setzte ihm dann die messerscharfe Spitze der Scherbe an den Rücken. »Und jetzt wirst du uns führen. Ganz langsam. Und mach keine Dummheiten.«
Der Mann nickte verkrampft, schluckte und setzte sich widerstrebend in Bewegung. »Sie sind verrückt«, wiederholte er Jeremys Worte. »Zu Ulthar wollten wir euch ohnehin bringen.«
»Ja, aber jetzt gefallen mir die Umstände viel besser«, entgegnete Sheldon grinsend. »Es ist ein kleiner Unterschied, ob ich gefangen zu jemandem gebracht werde oder ob ich ihm selbst ein paar seiner Untertanen als Gefangene präsentieren kann. Ich kann nur in eurem Interesse hoffen, daß Ulthar etwas an eurem Leben liegt.«
Er bekam keine Antwort, hatte sie aber auch nicht erwartet.
Jeremy und Mary-Lou bewaffneten sich ebenfalls mit einigen der überall herumliegenden Scherben. »Paßt auf die anderen auf«, sagte Sheldon gepreßt. »Ich möchte nicht, daß unsere Freunde auf die Idee kommen, irgendwelche Dummheiten zu versuchen.«
Sie gingen langsam durch das Labyrinth von Spiegeln. Sheldon achtete darauf, immer in unmittelbarer Nähe einer größeren Anzahl von Rahmen zu bleiben, um sein einziges Druckmittel nicht aus der Hand zu geben. Aber ihre Gefangenen machten keine Schwierigkeiten. Trotz der grauenhaften Veränderung, die mit ihnen vorgegangen war, schienen selbst diese Wesen noch über einen Selbsterhaltungstrieb zu verfügen.
Der Saal endete vor einer rauhen, unverkleideten Felswand. Ihr Führer wies mit einer stummen Geste auf eine schmale Tür.
Sheldon gab Cramer einen Wink. Der FBI-Direktor ging vorsichtig zur Tür hinüber, öffnete sie und spähte hindurch. Dahinter lag ein niedriger, schmaler Gang, der mit unzähligen Spiegeln verkleidet war.
»Wohin jetzt?« erkundigte sich Sheldon.
Das Spiegelwesen vor ihm deutete nach rechts. »Es ist nicht weit, wenn man den Weg kennt. Schließlich erwartet Ulthar euch bereits.«
26
In zahlreichen Kehren und Windungen führte der Gang tiefer in das Kristallgebilde hinein. Wie Vivian mittlerweile festgestellt hatte, handelte es sich nicht einfach um einen einzigen Tunnel, sondern der Gang war Bestandteil eines sinnverwirrenden, riesigen Labyrinths mit unzähligen Abzweigungen, Gabelungen und Quergängen, in dem sich ein Mensch wahrscheinlich in Sekundenschnelle rettungslos verirren würde. Auch Vivian hatte schon nach wenigen Schritten vollkommen die Orientierung verloren, dennoch setzte sie weiterhin monoton einen Fuß vor den anderen und bemühte sich, wenigstens ungefähr die anfangs eingeschlagene Richtung beizubehalten, um nicht ständig nur im Kreis herumzulaufen.