Vivian wußte jetzt, woran diese Umgebung sie erinnerte. Zwar gab es hier keine Spiegel, aber ansonsten schien dieses Gebilde aus schwarzem Kristall ein getreues Gegenstück zu Ulthars Spiegelkabinett zu sein, ein dunkler, lichtfressender, lebensfeindlicher Schatten, den das Labyrinth des Magiers in diese Dimension warf.
Aber vielleicht war es auch genau umgekehrt.
Vivians Müdigkeit war geblieben, aber sie war längst schon über den toten Punkt hinaus, und das Gehen strengte sie nicht besonders an, so daß sie spürte, wie ihre körperlichen Kräfte allmählich zurückkehrten.
Während der ersten Zeit hatte sie sich immer wieder umgedreht und kurz zurückgesehen, aber von dem Spinnenmonstrum war nichts zu entdecken. Schließlich war Vivian überzeugt, daß es ihr nicht gefolgt war, sondern sich damit begnügte, weiterhin an seinem Platz auf Eindringlinge zu warten.
Dennoch blieb sie vorsichtig. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß das Ungeheuer der einzige Wächter war - und doch schien es so zu sein. Immer mehr kam Vivian zu dem Schluß, daß die Beherrscher dieses Kristallgebildes glaubten, überhaupt keinen Schutz zu benötigen. Selbst die Spinne schien in erster Linie als Warnung zu dienen. Möglicherweise war das, was im Inneren des Gebildes lauerte, so schrecklich, daß es sich nicht durch Wächter schützen mußte, sondern sich selbst Schutz genug war.
Vivian wußte nicht, wie tief sie bereits in den Gang vorgedrungen war, als sie plötzlich die Geräusche hörte. Sie blieb stehen und lauschte.
Stimmen. Was sie hörte, waren gedämpfte Stimmen und die Geräusche schwerer, mühevoller Schritte, untermalt von einem metallischen Schleifen, das sie schon einmal gehört hatte. Und die Geräusche kamen näher. Vivian fuhr herum, hetzte ein paar Schritte zu einer Abzweigung zurück und verbarg sich in einem Seitengang. Vorsichtig spähte sie um die Ecke.
Eine Art bizarrer Prozession erschien in dem Tunnel, in dem sie sich gerade noch befunden hatte. Vivian erkannte fünf, sechs der großen, geschuppten Hornkrieger. Im Halbdunkel des Ganges wirkten ihre Gestalten noch drohender als im Licht der Nachmittagssonne; wandernde Berge, die zu finsterem Leben erwacht waren. Zwischen ihnen marschierte eine Anzahl der willenlosen Spiegelsklaven. Aber der Anblick unterschied sich in einem Punkt von dem vom Nachmittag: Einige der Gefangene schienen den Giganten nicht freiwillig zu folgen. Sie wehrten sich, versuchten die Reihen der Bewacher immer wieder zu durchbrechen und wurden brutal zurückgestoßen. Als die Gruppe näher kam, erkannte Vivian die Gesichter der Männer. Es handelte sich um Mark, Jonathan Masterton und die beiden anderen, die Ulthar in die Spiegelwelt geschickt hatte. Offensichtlich waren Mark und seine zwei Gefährten Masterton zu Hilfe geeilt und ebenfalls gefangengenommen worden.
Rückwärts gehend entfernte sich Vivian vorsichtig von der Abzweigung, als die Gruppe näher kam. Sie zog sich ein paar Schritte tiefer in den Gang zurück, sah sich gehetzt um und schmiegte sich schließlich mit hämmerndem Herzen in eine der zahllosen, dunklen Nischen, die die Gangwände unterbrachen.
Das erste der riesigen Wesen passierte die Abzweigung. Vivian hörte das leise Rasseln, mit dem seine Hornschuppen aneinanderrieben, als es an ihrem Versteck vorüberging. Das Ungeheuer schien eine boshafte, perverse Karikatur eines Menschen zu sein. Trotz seiner immensen Größe wirkten seine Bewegungen geschmeidig wie die einer Raubkatze. Die Erscheinung strahlte eine Aura von Kraft und Gewalttätigkeit aus. Die schwarzen, glitzernden Fäden auf seiner Haut zuckten und bebten. Der Anblick erinnerte Vivian an parasitäre Pilze, die einen Baum befallen hatten.
Der Hornkrieger bemerkte nichts von Vivians Anwesenheit, ebensowenig wie die anderen. Sie wartete, bis das letzte Wesen an ihrem Versteck vorübergegangen war. Dann trat sie lautlos aus der Nische hervor und folgte der Gruppe.
Die riesigen Hornwesen schienen nichts davon zu merken, daß sie verfolgt wurden. Sie hatten genug damit zu tun, Mark und seine drei Begleiter im Zaum zu halten, die im Gegensatz zu den willenlosen übrigen Spiegelwesen die Gefahr, die ihnen aus den Tiefen des Labyrinths entgegenwehte, ebenso deutlich spürten wie Vivian. Sie wehrten sich verzweifelt, und die Giganten schienen trotz ihrer ungeheuren Körperkräfte alle Mühe zu haben, sie am Ausbrechen zu hindern. Der Vormarsch der Gruppe verlangsamte sich zusehends, geriet immer wieder ins Stocken, und löste sich schließlich in einem unkontrollierten Tumult auf, als es Mark gelang, seinem Bewacher den Arm zu verdrehen und den Titanen zu Boden zu schleudern. Das Wesen knurrte wütend, kam mit einer Geschwindigkeit, die seinem plumpen Äußeren Hohn sprach, wieder auf die Füße und warf sich mit weit ausgebreiteten Armen auf Mark.
Mark wartete, bis das Wesen ihn fast erreicht hatte, wich dann blitzschnell zur Seite aus und nutzte die eigene Kraft des Angreifers, um ihn erneut zu Boden zu schleudern. Als der Hornkrieger sich diesmal erheben mußte, traf Marks Fuß seine Schlafe. Das Wesen brüllte auf, fiel ein drittes Mal nach hinten und blieb stöhnend liegen.
Eine halbe Sekunde später jedoch ging auch Marks Doppelgänger unter dem Ansturm von gleich drei Hornwesen zu Boden. Ein fürchterlicher Tumult brach los. Jonathan Masterton und die beiden anderen Spiegelbilder waren plötzlich ohne Bewacher. Einen Augenblick lang sah es so aus, als würden sie die Gelegenheit nutzen, um ihr Heil in der Flucht zu suchen, aber dann drehten sie sich zu Vivians Verblüffung herum und eilten Mark zu Hilfe.
Es war ein Kampf unvorstellbarer Gewalten. Im Vergleich zu den titanischen Hornkriegern wirkten die Spiegelgestalten geradezu winzig, aber Vivian hatte ja am eigenen Leib gespürt, wie unmenschlich stark sie waren. Trotzdem wußte sie, daß der Ausbruchsversuch zum Scheitern verurteilt war. Die geschuppten Giganten waren schon jetzt in der Überzahl, und der Lärm, den die verbissen kämpfenden Gegner machten, konnte nicht mehr lange ungehört bleiben. In wenigen Augenblicken würden die Hornkrieger Verstärkung erhalten.
Vivian löste sich aus der Nische, in der sie sich versteckt hatte, und schlich geschickt an den Kämpfenden vorüber. Der Tunnel war an dieser Stelle so breit, daß sie unerkannt vorbeikommen konnte. Weder die Hornwesen noch Mark, noch eines der anderen Spiegelgeschöpfe nahmen Notiz von ihr.
Sie rannte los.
Aus einem der Seitengänge war das Stampfen schwerer Schritte zu hören, vermischt mit wütenden, kratzenden Schreien und dem Klirren von Waffen. Vivian verschwendete keinen Augenblick mehr damit, dem ungleichen Kampf zuzusehen. Sie rannte über den unebenen Boden, wählte blind einen Seitengang aus und stürzte hinein. Sie hatte plötzlich keine Angst mehr, sich zu verirren. Sie wußte, wo ihr Ziel lag: im Zentrum dieses gigantischen Alptraumes. Und sie spürte die Richtung dorthin so deutlich, daß sie sie selbst mit geschlossenen Augen gefunden hätte. Die quälende, unmenschliche Ausstrahlung, dieser Schatten des Böden, der die ganze Umgebung wie ein Pesthauch zu durchtränken schien - der Ursprungsort lag unmittelbar vor ihr.
Der Gang machte einen scharfen Knick und gabelte sich. Vivian blieb stehen, sah die beiden runden, von wallenden schwarzen Nebeln erfüllten Öffnungen einen Herzschlag lang stirnrunzelnd an und wählte dann die rechte. Der schwarze Nebel bildete nur einen dunklen Vorhang. Dahinter lag ein weiter, kuppelförmiger Raum, dessen Boden knietief von einer schwarzen, schleimigen Substanz bedeckt war.
Vivian stöhnte entsetzt auf. Sie wußte jetzt, warum die Hornwesen die verlassene Stadt durchstreiften, wohin sie ihre Gefangenen brachten und was mit diesen geschah.
Tausende der Spiegelwesen standen reglos vor ihr. Es wirkte wie eine Szene aus einem besonders widerlichen Horrorfilm. Die Spiegelgeschöpfe waren offensichtlich nicht freiwillig in diesen Raum gegangen, selbst diese abgestumpften willenlosen Wesen schienen im letzten Moment gespürt zu haben, welches schreckliche Schicksal ihnen bevorstand. Auf ihren Gesichtern war das eingefrorene Entsetzen deutlich zu sehen, das im Augenblick ihres Todes von ihnen Besitz ergriffen hatte. Manche von ihnen standen in seltsam verkrampfter Haltung da, andere hatten einfach die Hände vors Gesicht geschlagen und sich in ihr Schicksal ergeben.