In dem Spiegel war brodelnde, durcheinanderwallende Schwärze zu sehen, eine Finsternis, die seltsam stofflich wirkte und Mary-Lou an ein Nest schwarzer, schleimig glänzender und untrennbar ineinander verwobener Schlangen erinnerte.
Sie spürte, wie sich der Stein in ihrer Hand erwärmte und fast begierlich zu pulsieren begann. Sie handelte instinktiv, ohne zu denken, schleuderte das Medaillon mit aller Kraft. Es flog auf den Spiegel zu - und hindurch, mitten hinein in die brodelnde schwarze Masse.
Ein gepeinigter, ohrenbetäubender Schrei ertönte, und nur Sekunden später drang ein gellender, vielstimmiger Aufschrei durch die geschlossene Tür. Ulthar erbleichte, wirbelte herum und starrte entsetzt auf den Spiegel, auf dem die draußen liegende Halle zu sehen war.
Die Spiegel explodierten einer nach dem anderen.
Es war eine Kettenreaktion. Wie bei einer Reihe Dominosteine, die nacheinander umfallen, wenn man den ersten anstößt, fraß sich die Explosion mit unglaublicher Schnelligkeit durch den Saal. Innerhalb von wenigen Sekunden verwandelte sich das Bild in ein Chaos aus grellen Lichtblitzen und herumwirbelnden Glassplittern. Ein dumpfes Grollen ließ den Boden erbeben, und ein unglaubliches Klirren und Bersten erfüllte die Luft. Das ganze Gebäude schien zu schwanken. Kalk und kleine Steine regneten von der Decke.
Immer noch hing Mary-Lous Blick wie gebannt an dem gebogenen Spiegel. Die Oberfläche hatte sich getrübt; das schwarze Wallen war einem Chaos durcheinanderwirbelnder Farben und Formen gewichen. Dann begann sich allmählich eine riesige Gestalt aus den tobenden Farben herauszuschälen; ein gigantischer, zweieinhalb Meter großer Umriß.
Ulthar wich aufkreischend zur gegenüberliegenden Wand zurück, als das Bild deutlicher wurde. Die Alptraumgestalt entpuppte sich als ein riesiges, schuppenhäutiges Ungeheuer, das nur aus Zähnen, Klauen und hornigen Stacheln zu bestehen schien.
Das Wesen bewegte sich, trat mit einem einzigen Schritt aus dem Spiegel heraus und auf den einarmigen Magier zu, ohne die anderen Menschen auch nur zu beachten. »Du hast versagt!«
Ulthar brach wimmernd in die Knie. »Nein!« kreischte er. »Ich habe nicht ...«
»Schweig!« schrie der Gigant. »Du hast deine Aufgabe nicht erfüllt. Du kennst die Strafe!« Das Wesen streckte einen seiner riesigen, muskelbepackten Arme aus, hob Ulthar wie ein Spielzeug hoch und drehte sich um.
»Nein!« kreischte Ulthar. »Bitte nicht! Es ist noch nicht verloren! Es ist nur ...« Seine Worte gingen in einem spitzen, unmenschlichen Schrei unter, als sich der Griff des Ungeheuers verstärkte.
»Durch deine Schuld sind Menschen in die Kristallfestung vorgedrungen«, dröhnte die Stimme des Giganten. »Die Existenz von Moron selbst ist in Gefahr geraten. Dafür wird dich die schlimmste nur vorstellbare Strafe treffen!«
Dann trat es mit einem einzigen Schritt in den Spiegel hinein und verschwand.
Für einen winzigen Augenblick schien die Zeit stehengeblieben. Ein dumpfes, vibrierendes Grollen ließ den Fußboden erbeben. Der Spiegel wurde blind und überzog sich mit einem Spinnennetz aus Millionen und Abermillionen winziger Risse.
Sheldon war der erste, der sich von seinem Schock erholte. »Raus hier!« brüllte er.
Er wirbelte herum, riß Mary-Lou mit sich und warf sich mit aller Kraft gegen die dünne Holzwand. Die morschen Bretter zersplitterten unter seinem Aufprall. Er stolperte nach draußen, fiel hin und raffte sich mühsam wieder auf. Hinter ihm taumelte Jeremy durch die gezackte Öffnung. Er hatte Bender gepackt und zerrte ihn wie ein kleines Kind hinter sich her.
»Weg!« schrie Sheldon. »Nichts wie weg hier!«
Das gesamte Gebäude erbebte. Krachend lösten sich Balken und Zwischenwände. Das Dach sank ein, stürzte mit einem polternden Dröhnen nach innen und riß einen Teil der Seitenwand mit sich.
Mary-Lou fiel auf die Knie. Blutiger Nebel wallte plötzlich vor ihren Augen. Sie nahm ihre Umgebung nur noch wie durch einen dichten Schleier wahr, glaubte plötzlich überall um sich herum Menschen zu sehen, Hunderte von Menschen. Direkt vor ihr tauchte ein altertümlich gekleideter Mann auf. Auf seinem Gesicht lag ein glückliches Lächeln. Im nächsten Moment brach er vor ihr zusammen.
Das letzte, was Mary-Lou sah, war, wie er in rasender Geschwindigkeit zu altern begann und zu Staub zerfiel, aber sie war sich nicht einmal sicher, ob sie es wirklich sah, oder ihre überreizten Sinne ihr nur etwas vorgaukelten.
Dann verlor sie endgültig das Bewußtsein.
Mark reagierte mit unglaublicher Kaltblütigkeit. Er fuhr herum, riß die erbeutete Peitsche aus dem Gürtel und schlug damit nach dem vordersten Hornkrieger. Das Wesen schrie auf, verlor das Gleichgewicht und stürzte aufkreischend in den Abgrund.
»Hier!« Mark warf Masterton die Peitsche zu und wirbelte abermals herum. »Halt sie auf.«
»Was hast du vor?«
Mark riß sein Schwert hoch und ließ die Klinge wuchtig auf den schwarzen Altar krachen. Funken stoben auf; ein langer, schartiger Riß entstand in der schimmernden Oberfläche des Blocks, und das wesenlose Wallen schien sich zu verstärken.
»Hilf mir!«
Vivian nickte automatisch, trat neben Mark und stemmte die Waffe, die er ihr zuwarf, mit aller Kraft hoch. Das Schwert war so schwer, daß sie kaum die Kraft aufbrachte, es über den Kopf zu heben, geschweige denn, daß sie es schaffen würde, wuchtig damit zuzuschlagen.
Masterton hieb unablässig mit der Peitsche um sich. Jeder Hieb beförderte zwei, drei der klobigen Gestalten in die Tiefe, aber von hinten drängten unablässig weitere Angreifer nach. Die Wesen schienen keine Angst vor dem Tod zu haben. Und jedesmal, wenn Masterton zu einem neuen Schlag ausholte, drang die Front der Angreifer weiter vor.
Mark verdoppelte seine Anstrengungen, als er sah, wie die Hornkrieger unablässig weiter vordrangen. Sein Schwert schlug eine tiefe, schartige Furche in den Block, riß ganze Steinbrocken heraus und arbeitete sich unablässig tiefer.
Aber er war zu langsam.
Hinter seinem Rücken erscholl ein gellender Schrei. Er fuhr herum und sah gerade noch, wie Masterton unter dem Gewicht eines der Riesen zu Boden ging.
Dann waren die Hornkrieger heran.
Mark durchbohrte den vordersten Angreifer mit seinem Schwert, trat einem zweiten die Beine unter dem Körper weg und parierte einen Schwerthieb, ehe auch er unter der Menge der Angreifer wie unter einer lebendigen Welle begraben wurde.
Drei, vier der Bestien drangen mit wütenden Schreien auf Vivian ein. Sie wich zurück, entging einem fürchterlichen Fausthieb nur um eine Haaresbreite und stolperte hinter den Altar. Gigantische Hände griffen nach ihr.
Messerscharfe Krallen zerfetzten den Stoff ihrer Jacke und gruben sich tief in ihr Fleisch.
Vivian stöhnte. Noch einmal gelang es ihr, sich loszureißen und zurückzutaumeln. Ein Stück ihrer Jacke blieb in den Klauen des Hornkriegers zurück, der damit nicht gerechnet hatte. Einen Moment lang ruderte er haltlos mit den Armen, dann stürzte er rücklings in den Abgrund.
Und dann war es plötzlich vorbei. Von einer Sekunde auf die andere erstarrten die Hornkrieger zur Reglosigkeit.
Irgendein bläulich schimmernder Gegenstand kam aus dem Nichts herangeflogen, streifte den Rand des schwarzen Wallens und riß es entlang seiner Flugbahn auseinander, bevor es dicht vor Vivian zu Boden prallte. Instinktiv stellte sie einen Fuß vor und hielt es auf, bevor es über die Kante rutschen und in den Abgrund fallen konnte. Erst als sie sich nach dem Ding bückte, erkannte sie, daß es sich um ihr Amulett handelte.
Vivian vergeudete keine Zeit damit, sich zu fragen, wie es hierhergekommen war. Sie hob es auf und wog es ein paar Sekunden lang in der Hand. Der Stein war fast schmerzhaft heiß und pulsierte wild.
Sie schaute wieder zu dem Altar. Das Wallen war schneller geworden, hektischer - und angsterfüllt, wie es Vivian schien. Sie hatte deutlich gesehen, wie das Amulett die Schwärze, dort, wo es sie berührt hatte, auseinandergerissen hatte.