Mark hatte sich von dem Gewicht der regungslosen Hornkrieger befreit und taumelte heran. »Was ...«
Vivian beachtete ihn nicht. Sie zögerte noch einen kurzen Moment, dann schleuderte sie das Amulett mit aller Kraft auf den Altar zu. Es überschlug sich in der Luft und landete genau im Zentrum des schwarzen Wallens.
Ein ungeheurer, wütender Aufschrei zerriß die Luft.
Grellrotes Licht pulsierte aus dem Abgrund herauf. Gewaltige Flammen loderten in die Höhe. Die Brücke zerbrach, regnete in einem Hagel von Trümmerstücken in die Tiefe und riß Dutzende der Hornkrieger mit sich.
Der Altar schien zu verschwimmen. Das schwarze wesenlose Wallen wurde rot, dann weiß und verwandelte sich schließlich in einen grellen, ungeheuer heißen Glutball. Vivian sah, wie der Stein Feuer fing und brannte, wie sich der Boden unter ihren Füßen in rotglühende Lava verwandelte, aber sie verspürte keinen Schmerz.
Im nächsten Moment neigte sich das Plateau, auf dem sie, Mark und Masterton standen, zerbrach und stürzte in die bodenlose Tiefe, aber noch während sie stürzte, wurde die Welt um Vivian herum unwirklich, begann sich aufzulösen, und dann ...
Die Jalousien waren halb heruntergelassen. Der Licht der Nachmittagssonne fiel in Streifen durch die Ritzen zwischen dem weißen Kunststoff und zeichnete ein geometrisches Muster aus Hell und Dunkel auf die Tischdecke.
Vivian Taylor blickte nachdenklich in ihr Champagnerglas, nippte daran, und stellte es dann vorsichtig auf den Tisch. Ihre Finger folgten unbewußt den goldenen Linien, die das Sonnenlicht auf das Leinen des Tischtuches malte. Erst dann sah sie wieder auf und ließ ihren Blick der Reihe nach über die Gesichter der anderen fünf Personen im Raum gleiten.
Mary-Lou und Jeremy Cramer, Jonathan Masterton, Sheldon und natürlich Mark. Sie waren die einzigen, die sich an alles erinnerten. Mark, Masterton und sie selbst, weil sie auf der anderen Seite gewesen waren, und die anderen drei, weil sie sich als einzige normale Menschen in Ulthars Spiegelkabinett befunden hatten.
Vivian hatte sich gründlich ausgeschlafen, und zum ersten Mal seit über einer Woche hatte der Alptraum von Melissas Sturz aus dem Hochhaus sie nicht gequält. Sie hatte Vivian überzeugt, daß dies auch nie wieder geschehen würde. Auch das war endgültig vorbei.
Ein Tag war verstrichen, seit sie aus der Spiegelwelt zurückgekehrt war, auf eine Art, die sie selbst nicht verstand. Ihre Erinnerung reichte nur bis zu dem Punkt, an dem das Plateau mit dem Altar darauf in die Tiefe gestürzt war und sie das Bewußtsein verloren hatte. Als sie wieder aufgewacht war, hatte sie sich wieder auf Coney Island befunden, und nicht nur sie, wie Jeremy Cramer ihr inzwischen berichtet hatte. Nach der Vernichtung der Spiegel waren auch die darin gefangenen Menschen wieder befreit worden. Seit sie in Ulthars Falle geraten waren, hatte die Zeit für sie aufgehört zu existieren, doch nach der Zerstörung der Spiegel hatte sie sich mit einem Schlag zehnfach zurückgeholt, was ihr zustand. Für die Menschen, die bereits seit Jahrzehnten Ulthars Gefangene gewesen waren, war es keine Befreiung geworden, nur eine Erlösung. Sie waren binnen weniger Sekunden zu Staub zerfallen. Vivian war froh, daß ihr dieser Anblick erspart geblieben war.
Die anderen - und es waren immer noch Hunderte gewesen - viele davon Gäste von Conellys Empfang - hatten das Bewußtsein verloren. Cramer hatte dafür gesorgt, daß sie unverzüglich in Krankenhäuser gebracht wurden. Mittlerweile hatten sie das Bewußtsein wiedererlangt und waren bis auf einige wenige, die beim Zusammenbruch des Kabinetts leichte Verletzungen davongetragen hatten, unversehrt. Wie sich inzwischen herausgestellt hatte, hatten sie jedoch alle keine Erinnerung mehr an die schrecklichen Ereignisse, die mit Ulthar in Zusammenhang standen. Auch Frank Porter, Sheldons Bruder, befand sich unter ihnen.
Bedrücktes Schweigen hing im Raum. Obwohl die Hotelsuite groß und weitläufig war, fühlte sich Vivian beengt. Sie stand auf, ging ans Fenster und zog die Kunststofflamellen ein wenig auseinander, um hinuntersehen zu können. Der Verkehr brauste wie jeden Tag über die überfüllten Straßen Manhattans. Nichts schien sich verändert zu haben; das Leben ging seinen gewohnten Gang, als hätte es die ganzen schrecklichen Geschehnisse nie gegeben.
Sie drehte sich wieder um. »Wir sind Ihnen wohl zu großem Dank verpflichtet, Mister Cramer«, sagte sie.
Der FBI-Direktor lächelte. Er wirkte um Jahre gealtert. Auch sein Weltbild war völlig auf den Kopf gestellt worden, und er schien sich auch jetzt noch nicht völlig von den Schrecken erholt zu haben, die er erlebt hatte. Zugleich sah er müde aus. Kein Wunder bei allem, was er allein in den vergangenen vierundzwanzig Stunden geleistet hatte. Vermutlich hatte er noch keine Minute geschlafen.
»Was ich getan habe, war nur meine Pflicht«, wiegelte er ab. »Ich glaube, wir alle schulden Ihnen ungleich größeren Dank. Ohne Sie wäre wohl keiner von uns mehr am Leben.«
»Was ich getan habe, war purer Selbsterhaltungstrieb«, gab Vivian im gleichen Tonfall zurück und lächelte ebenfalls. »Wenn Sie nicht so schnell und entschlossen gehandelt hätten, gäbe es für uns wohl keine ruhige Minute mehr, und wahrscheinlich würden wir alle in der Klapsmühle landen.«
»So wie Susan Conelly«, sagte Cramer ernst. »Sie hatte keine Ahnung vom Doppelleben ihres Mannes und erlitt einen Nervenzusammenbruch, als wir in die unterirdischen Gewölbe unter seinem Haus eindrangen. Jetzt befindet sie sich in einem Sanatorium.«
Vivian konnte es sich gut vorstellen, nach allem, was Cramer ihr über die grausamen Funde in den Katakomben erzählt hatte. Er war mit einer speziell ausgesuchten Elitetruppe des FBI in die Gewölbe vorgedrungen. Offenbar waren mit dem Tod des Monstermachers auch seine Kreaturen gestorben, aber es mußte ein langsamer und qualvoller Tod gewesen sein. Zum Schluß waren die Ungeheuer übereinander hergefallen und hatten sich gegenseitig zerfleischt, nachdem sie zuvor von unglaublichem Haß getrieben die Einrichtung der Katakomben kurz und klein geschlagen hatten.
»Conellys Geheimnis wird wohl für immer ungelöst bleiben«, fuhr Cramer fort. »Wir haben zwar die Überreste zahlreicher sonderbarer Apparaturen gefunden, aber es lassen sich keine Schlüsse mehr ziehen, ob es ihm auf wissenschaftlichem Weg gelungen ist, Menschen in diese ... diese Ungeheuer zu verwandeln, oder ob es sich doch um eine Form der ... Magie handelt.«
Vivian entging nicht das kurze Stocken Cramers bei dem Wort Magie. Es fiel ihm immer noch schwer, sich damit abzufinden, daß es diese übernatürlichen Kräfte gab. »Vielleicht ist es auch besser, wenn dieses Geheimnis niemals gelöst wird«, murmelte sie.
»Die Monster selbst bieten auch keine Anhaltspunkte«, fuhr Cramer ungerührt fort. »Nach ihrem Tod haben sie sich wieder in Menschen zurückverwandelt. Ich habe die Leichen bereits fortbringen lassen. Es ist besser, wenn die Öffentlichkeit nichts davon erfährt. Der Skandal, den es gäbe, wenn herauskäme, daß der Bürgermeister von New York mehr als hundert Menschen umgebracht und in seinem Keller versteckt hat, würde nur die öffentliche Ordnung gefährden. Allerdings sind einige Gerüchte durchgesickert, obwohl ich sofort eine Pressesperre verhängt habe. Die Medien werden wohl noch eine Weile herumrätseln, aber die Aufregung wird sich bald legen. Was allerdings meine Vorgesetzten betrifft, so werde ich wohl noch einige Schwierigkeiten bekommen, die Wahrheit zu verheimlichen.«
»Ich möchte diesen Alptraum nur noch so schnell wie möglich vergessen«, murmelte Mary-Lou.
»Vielleicht war es auch nur genau das, ein besonders schlimmer Alptraum«, sagte Sheldon ohne rechte Überzeugung.
Vivian lächelte. »Den wir alle zugleiche geträumt haben?« Sie schüttelte den Kopf, ging zum Tisch zurück und ließ sich seufzend in den Sessel fallen.