»Dieses Moron«, sagte Sheldon und schaute sie an. »Glauben Sie, daß es ... vernichtet wurde?«
Vivian zuckte mit den Achseln. »Ich weiß es nicht«, antwortete sie ehrlich. »Aber das spielt auch keine Rolle mehr. Nachdem die Spiegel vernichtet sind, kann es uns nicht mehr gefährlich werden.«
»Zumindest, solange sich nicht wieder jemand wie Ulthar findet, der fanatisch genug ist, sich auf einen solchen Pakt einzulassen«, fügte Mary-Lou leise hinzu. »Aber, wie gesagt - ich möchte diese schrecklichen Tage einfach nur noch vergessen. Ich bin auch nur mitgekommen, um mich von Ihnen zu verabschieden.«
»Genau wie ich«, ergänzte Sheldon. »Durch Sie wurde mein Bruder gerettet, dafür wollte ich Ihnen danken. Sie wollen wirklich schon morgen fliegen?«
Mark nickte. »Sogar schon in aller Frühe. Durch die Flugdauer und die Zeitverschiebung werden wir trotzdem erst nachmittags in England eintreffen. Sie werden sicherlich verstehen, daß wir nach allem, was geschehen ist, so schnell wie möglich nach Hause wollen, da diese schrecklichen Erlebnisse nun endlich vorbei sind.«
Er wechselte einen raschen, unauffälligen Blick mit Vivian. Außer ihr wußte Mark als einziger, daß es noch nicht vorbei war. Genau wie Jonathan Masterton war auch er nach der Zerstörung der Spiegel wieder mit seinem Abbild verschmolzen, da er jedoch in der Spiegelwelt schon nicht mehr Ulthars Einfluß unterstanden hatte, besaß er auch die Erinnerungen daran.
Was Vivian aber beunruhigte, war die Frage, was aus Melissas negativem Spiegelbild geworden war. Es war nicht wieder mit ihr verschmolzen, und sie glaubte nicht daran, daß es vernichtet war. Eine Stimme tief in ihrem Inneren sagte ihr, daß es immer noch lebte. Vielleicht stand ihr der gefährlichste Teil dieses Kampfes noch bevor.
Aber es hatte keinen Sinn, auch noch die anderen mit diesen Gedanken zu ängstigen. Sie hatten damit nichts mehr zu tun. Wenn Melissa noch lebte, dann handelte es sich um eine Angelegenheit, die nur sie beide betraf, höchstens noch Mark. Und Vivian wußte auch, daß die finale Auseinandersetzung nicht hier in New York stattfinden würde, sondern in England.
»Natürlich verstehen wir das alle«, ergriff Jonathan Masterton das Wort. »Ich hoffe jedoch, daß ihr New York nicht nur in schlechter Erinnerung behaltet. Ihr wißt ja, gemeinsam durchlebte Gefahren schmieden Freundschaften besser als alles andere, und nachdem wir diese Gefahren siegreich gemeistert haben, werden wir uns schon allein aufgrund unserer geschäftlichen Zusammenarbeit in Zukunft noch oft sehen.« Er zwinkerte Vivian zu. »Beim nächsten Mal komme ich zu euch, dann könnt ihr mir die Gespenster und Dämonen zeigen, für die England so berühmt ist. Wäre doch gelacht, wenn wir mit denen nicht auch fertig würden.« Er hob sein Glas. »Trinken wir darauf, daß wir uns bald alle wiedersehen.«
Genau wie die anderen hob auch Vivian ihr Glas und trank einen Schluck Champagner.
27
Im unsicheren Licht der Dämmerung wirkten die Mauern von Hillwood Manor finster und drohend. Das große Anwesen, das sich seit Generationen im Besitz der Taylors befand, erhob sich wie ein buckeliges Ungeheuer auf dem Hügel; ein schwarzer, düsterer Koloß, der das umliegende Land allein durch seine Anwesenheit zu beherrschen schien. Mit seinen vielen, sternförmig angeordneten Nebengebäuden, den Türmchen, Erkern und Balkonen wirkte es mehr wie eine alte Trutzburg als wie ein Herrenhaus. Hinter keinem der Fenster brannte Licht.
Die Frau stand hinter der Brüstung des viereckigen Turmes in der Mitte der Gebäudeansammlung; wenig mehr als ein schwarzer Schatten gegen die niedrig hängenden Wolken. Wind spielte mit ihrem schulterlangen, schwarzen Haar, zupfte an ihrer Kleidung und bauschte den karmesinroten Umhang, der ihre Schultern wie ein Paar übergroßer, gefalteter Fledermausschwingen umgab.
Die Hauptgebäude von Hillwood Manor lagen wie ausgestorben vor ihr. Selbst über dem Hof lastete Schweigen, eine Stille, die fast unnatürlich wirkte. Wo früher das helle Zwitschern der Vögel war, das fröhliche Bellen der Hunde, die tausendfachen Geräusche des von Leben und Frohsinn erfüllten Anwesens, herrschte jetzt Stille. Das Anwesen war tot, von einem dumpfen, unbeschreiblichen Gefühl des Bösen erfüllt.
Obwohl die Sonne bereits am Horizont aufzugehen begann, schien es nicht richtig hell zu werden. Irgend etwas Dunkles, Kaltes hüllte das Gebäude ein, lastete wie unsichtbarer Nebel über Innenhöfen und Wehrgängen und erfüllte die Hallen und Gänge mit wispernden Schatten. Die freundliche, gelöste Atmosphäre war verflogen und hatte einem schleichenden Gefühl der Bedrohung Platz gemacht. Hillwood Manor schien sich über Nacht verändert zu haben. Vielleicht waren die Schatten ein wenig härter und drohender geworden, vielleicht hatte sich der Gesamteindruck ein wenig mehr in Richtung jener unsichtbaren Grenze verschoben, die im Empfinden der Menschen den Unterschied zwischen Gut und Böse ausmacht. Die schmalen Fenster wirkten plötzlich wie dunkle, augenlose Höhlen, die drohend über das Land starrten, und der gemauerte Torbogen erinnerte an das gierig aufgerissene Maul eines bizarren Ungeheuers, das auf seine ahnungslosen Opfer lauert.
Melissa bewegte sich unruhig. Ihr Umhang raschelte leise, und das Geräusch ihrer Schritte erinnerte an das behutsame Schleichen einer Raubkatze. Ihr Blick glitt über die sanft abfallenden Wiesen, tastete sich über den Waldrand und verlor sich schließlich irgendwo in der Ferne.
Sie hatte dem Personal für einige Tage freigegeben, um sich in Hillwood Manor einzuleben und sich in Ruhe auf ihre neue Rolle als Vivian Taylor vorzubereiten. Dies war nun nicht mehr nötig, dennoch war sie froh, daß sie allein war. Es galt Vorkehrungen zu treffen, aber nicht auf eine Rolle, sondern auf einen Kampf.
Etwas war geschehen, womit sie niemals gerechnet hätte. Es war Vivian Taylor, der echten Vivian Taylor, wider alle Erwartungen gelungen, lebend aus der Spiegelwelt zurückzukehren. Mehr noch, Ulthars Macht war zerschlagen, der Magier selbst tot. Ein kleines, böses Lächeln glomm in Melissas Augen auf. Wenigstens um dieses Problem brauchte sie sich nicht mehr zu kümmern.
Blieben nur noch Vivian und Mark Taylor. Die beiden würden sich in wenigen Stunden auf den Rückweg nach England machen.
Melissa drehte sich um, verließ den Balkon und trat in das darunterliegende Zimmer, das Schlafzimmer der Taylors. Ihre Schritte waren lautlos, als sie über den hohen, flauschigen Teppich ging. Vor einem großen, goldgerahmten Spiegel blieb sie stehen. Das silberbedampfte Glas zeigte ihr das Bild einer jungen berückend schönen Frau: schwarzes Haar, eine schlanke, täuschend zerbrechlich wirkende Gestalt, ein Gesicht, in dem eine schwer zu definierende Mischung von Sanftmut und Kraft zu lesen war.
Melissa konnte sich an ihrem eigenen Anblick nicht satt sehen. Sie liebte diesen Körper, aber trotz allem handelte es sich nur um eine Kopie von Vivians Körper, wie ihr in den vergangenen Stunden schmerzlich bewußt geworden war, eine Seifenblase, die jeden Moment zerplatzen konnte. Ihr größter Trumpf war lediglich, daß Vivian und Mark zur Zeit noch nichts von ihr wußten.
Zum wiederholten Male innerhalb der letzten Stunden durchdachte Melissa das Problem. Ihr blieben nur zwei Alternativen: Sie konnte all ihre hochtrabenden Pläne vergessen und kurzerhand fliehen, aber das würde bedeuten, selbst zur Gejagten zu werden. Spätestens nach einem Gespräch mit dem Personal würde Vivian Taylor wissen, daß sie noch lebte, und sie auf keinen Fall unbehelligt lassen.
Die zweite Alternative bestand darin, sich schon jetzt zu einem Kampf zu stellen. Melissa machte sich nichts vor, Vivian Taylor war gefährlich. Sie würde vorsichtig sein müssen, aber es lag an ihr, Ort, Zeitpunkt und Umstände des Kampfes zu bestimmen, und das verschaffte ihr einen gewaltigen Vorteil. Sie würde Vivian und Mark töten und ihr Vorhaben dann wie geplant durchziehen. Erst wenn die beiden vernichtet waren, konnte sie sich wirklich frei fühlen.