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Vivian erwiderte den Blick. Sie las aufrichtige Verzweiflung in Mary-Lou Cramers Gesicht. Dies war kein Test und auch kein Spiel wie die geplante Seance; die Frau brauchte wirklich Hilfe und griff nach jedem Strohhalm, der sich ihr bot. »Bitte«, drängte sie noch einmal.

Vivian ergriff ihre Hand, drehte die Handfläche nach oben und betrachtete die darin eingegrabenen Linien. »Ich glaube allerdings kaum, daß ich Ihnen weiterhelfen kann«, warnte sie vor allzu großen Hoffnungen und konzentrierte sich. »Aber ...«

Es war wie ein Stromstoß, der durch ihre Gedanken fuhr. Unwillkürlich zuckte Vivian zusammen. Ihre Augen weiteten sich; immer noch starrte sie auf die Hand vor sich, doch ihr Blick ging durch diese hindurch ins Nichts.

»Was ist los mit Ihnen?« fragte Mary-Lou besorgt.

»Ihre Kinder ... sie sind nicht zu Hause«, murmelte Vivian und zog ihre Hände ruckartig zurück.

»Was?« Verwirrt schaute Mary-Lou Cramer sie an, dann nickte sie. »Ja, die Kinder sind mit der Schule ein paar Tage weggefahren, aber was ...« Sie stockte. »Sie können es tatsächlich, nicht wahr? Wie hätten Sie sonst davon wissen können?« Sie rang sich ein Lächeln ab, doch irgend etwas in ihrem Blick hatte sich verändert, auf eine Art, die Vivian nur allzu vertraut war. »Ist ... ist etwas mit den Kindern?«

»Nein, machen Sie sich keine Sorgen.« Vivian schüttelte den Kopf. »Mit den Kindern ist alles in Ordnung.«

»Dann ist es gut.« Mary-Lou atmete erleichtert auf. »Hören Sie, seien Sie mir nicht böse, aber ich habe es mir anders überlegt. Ich weiß nicht, was Sie gesehen haben, aber es ... ich glaube, es ist besser, wenn Sie mir nichts darüber sagen. Ich möchte es nicht mehr wissen, egal, was es ist.«

Vivian nickte. Sie hätte ihr ohnehin nichts erzählen können. Dafür war alles zu schnell gegangen und viel zu überraschend gekommen. Sie hatte sich nur Mary-Lous Handlinien ansehen und dann vielleicht mit einem ganz leichten geistigen Stoß über das Sichtbare hinaus vordringen wollen, aber wofür sie gewöhnlich intensive Konzentration benötigte, war diesmal fast von alleine geschehen, und in viel, viel stärkerem Maße, als sie es beabsichtigt hatte. Da sie instinktiv sofort abgeblockt und ihren Geist verschlossen hatte, hatte sie nur einige ganz vage Eindrücke aufgeschnappt. Es war um Mary-Lous Mann, Jeremy Cramer, gegangen, und um das Haus und darum, daß es gut war, daß die beiden Kinder der Cramers fort waren. Auch hatte in irgendeiner Form ein Spiegel eine Rolle gespielt. Sämtliche Eindrücke waren von drohendem Unheil überschattet gewesen. Mehr hatte sie nicht mitbekommen, bevor sie ihren Geist erschrocken vor den fremden Sinneseindrücken abgeschirmt hatte.

Kurz spielte sie mit dem Gedanken, Mary-Lou zu raten, nach Hause zu fahren, schwieg dann aber doch. Dies wäre genau die Art von Rat gewesen, die dazu dienen sollten, irgendein Unheil zu verhindern, statt dessen aber eine verhängnisvolle Entwicklung womöglich erst in Gang setzten. Es war immerhin vorstellbar, daß Mary-Lou ihren Mann mit einer anderen im Bett erwischte, wenn sie jetzt nach Hause fuhr, oder in sonst irgend etwas hineingeriet, was ihr ohne diesen Ratschlag erspart geblieben wäre. Die Vision war zu kurz gewesen, als daß Vivian sich zutraute zu entscheiden, was das beste wäre, und sie war noch viel zu verwirrt, um klar denken zu können.

Aus irgendeinem Grund war es ihr diesmal nicht gelungen, ihre Kräfte wie gewohnt zu kontrollieren.

Wahrscheinlich hätte sie trotz ihrer vorherigen Zustimmung ihre Teilnahme an der Seance doch noch verhindert, wenn ihr nur ein paar Sekunden mehr Zeit zum Nachdenken geblieben wären, doch genau in diesem Moment kehrte Amy Masterton in den Salon zurück.

»Ich weiß nicht, was es hier noch zu tuscheln gibt. Wir warten bereits alle«, sagte sie gespielt vorwurfsvoll, ergriff Vivian am Arm und zog sie mit sich, so daß Vivian kaum eine andere Möglichkeit blieb, als ihr zu folgen.

Die Wände der Bibliothek waren bis unter die Decke mit Regalen gesäumt, auf denen Tausende von Büchern standen. Vivian sah sich von einer ganzen Galerie von Buchrücken umgeben, die meisten davon aus kostbarem Leder und viele mit Einlagen aus Blattgold verziert. Es gab nur drei Unterbrechungen in den Regalen: Die Tür, durch die sie gerade gekommen war, und zwei Fenster, die jedoch so gründlich mit schweren Vorhängen verdeckt waren, daß nicht der kleinste Strahl Tageslicht hereinfiel. Die einzigen Lichtquellen bildeten ein großer Kristallüster und eine wesentlich kleinere Lampe, die in einem langen Kabel von der Decke herunterhing, bis nicht einmal einen Meter über einem großen, runden Tisch, der neben einer ledernen Sitzgruppe in einer anderen Ecke des Raumes die einzige Einrichtung des Raumes bildete.

»Setzen Sie sich, Vivian«, sagte Missis Masterton und deutete auf einen der drei noch freien Stühle am Tisch. »Was ist mit dir, Mary-Lou?«

Mary-Lou Cramer schüttelte fahrig den Kopf. »Ich ... ich werde diesmal nicht teilnehmen«, verkündete sie mit vor Nervosität bebender Stimme, ging zu einem der Ledersessel hinüber und setzte sich dort. »Ich werde von hier aus zusehen.«

»Wie du meinst.« Amy Masterton runzelte die Stirn, zuckte dann aber mit den Schultern und stellte einen der Stühle zur Seite. »Rücken wir ein wenig, um den Kreis gleichmäßig zu schließen.«

Mit einem Knopfdruck löschte sie den Kristallüster, dann drehte sie an einem Dimmer, bis die andere Lampe nur noch matt glühte und der Schein gerade noch ausreichte, über dem Tisch eine Oase trüben Dämmerlichts zu erzeugen. In der Mitte des Tisches, genau im Zentrum des schwachen Lichtkegels, stand ein aus dünnen Metallstäben konstruiertes Gebilde, in dessen Mitte ein Pendel an einem dünnen Faden herabbaumelte. Um dieses Pendel waren kreisförmig Metallplättchen angeordnet, von denen jedes einen Buchstaben des Alphabets zeigte.

»Wir haben bereits verschiedene Hilfsmittel ausprobiert«, erklärte Amy Masterton und nahm Vivian gegenüber auf dem einzigen noch freien Stuhl Platz. »Dieses hier habe ich mir selbst ausgedacht und anfertigen lassen. Da unsere Runde stets recht groß ist, haben wir damit bessere Erfahrungen gemacht als mit einem Ouija-Brett und all den anderen Möglichkeiten, die es gibt.«

Vivian verkniff sich taktvoll die Frage, welche Erfolge sie denn bislang schon erzielt hätten. Statt dessen betrachtete sie das Gebilde genauer. Sie mußte zugeben, daß es zwar einfach, aber äußerst geschickt ausgetüftelt war - vorausgesetzt, daß genügend mediale Energie freigesetzt wurde, um überhaupt etwas zu bewirken, aber das galt schließlich für alle anderen Hilfsmittel auch. Wenn es gelang, das Pendel zum Ausschlagen zu bringen, stieß es die Plättchen mit den Buchstaben an und war auf diese Art in der Lage, Worte zu bilden. Die Plättchen waren so angeordnet, daß sie von jeder Seite des Tisches aus zu sehen waren. Missis Masterton beugte sich vor und stieß das Pendel mit der Hand leicht an. Es mußte durch eine Batterie mit Strom versorgt werden, denn es ließ die Plättchen bei der Berührung kurz aufleuchten. Außerdem waren sie mit unterschiedlich großen Hohlkörpern versehen, so daß jedes beim Anstoßen einen geringfügig anderen Ton erzeugte.

»Sie werden selbstverständlich das Medium sein«, fuhr Missis Masterton fort. »Wie wir bereits aus bitterer Erfahrung wissen, eignet sich keine von uns sonderlich gut für diese Aufgabe. Hoffen wir, daß Sie mehr Erfolg haben.« Sie räusperte sich. »Wir werden unsere gemeinsame Konzentration auf Sie richten, und Sie werden versuchen, sie auf das Pendel zu übertragen.«

»Haben wir nicht noch eine Kleinigkeit vergessen?« fragte Vivian mit angedeuteter Ironie. »Bei aller Begeisterung dafür, möglicherweise eine Antwort durch das Pendel zu bekommen, sollten wir uns vielleicht erst einmal Gedanken darüber machen, welche Frage wir überhaupt stellen.«

Missis Masterton lächelte. »Nun, es gibt eine Menge Fragen, die wohl jeden von uns brennend interessieren. Aber in diesem speziellen Fall schlage ich vor, daß wir uns an den Anlaß halten, aus dem Sie und Ihr Mann überhaupt nach New York gekommen sind. Während unsere Männer über Geschäfte verhandeln, sollten wir versuchen, schon mal im voraus etwas über das Ergebnis dieser Verhandlungen herauszufinden. Was halten Sie davon?«