Noch einmal ließ Melissa ihren Blick umherschweifen. Zur Zeit war all dies nicht mehr als eine Leihgabe, die sie sich nur angeeignet hatte, aber bevor die Sonne zum nächsten Mal aufgehen würde, würde alles ihr gehören. Für immer.
Die LTU-Tristar-Maschine kam am frühen Nachmittag mit einem sanften, kaum merklichen Ruck auf der Landebahn des Londoner Flughafens zum Stehen. Das helle Singen der Triebwerke, das während der letzten viereinhalb Stunden ein monotones Hintergrundgeräusch zu dem Gesprächen der Passagiere gebildet hatte, verstummte abrupt. Über den Köpfen der Reisenden erloschen die Leuchtanzeigen, die die Passagiere aufgefordert hatten, sich anzuschnallen und das Rauchen einzustellen.
»Zu Hause«, sagte Mark Taylor. Seiner Stimme war die Erleichterung anzuhören, die er mit dem Wort verband. Er löste den Verschluß seines Sicherheitsgurtes, beugte sich im Sitz vor und sah einen Moment lang durch das Fenster auf das regennasse Flugfeld des Flughafens hinaus.
»Noch nicht ganz«, sagte Vivian Taylor leise. »Du wirst dich noch eine Weile gedulden müssen, ehe wir in Hillwood Manor sind.«
»Jedenfalls freue ich mich darauf, wieder englischen Boden unter den Füßen zu haben«, gab Mark zurück. Er seufzte demonstrativ, stand auf und klaubte die beiden Koffer mit ihrem Handgepäck aus dem Netz. Vivian erhob sich ebenfalls, griff nach ihrer Reisetasche und trat auf den schmalen Mittelgang hinaus. Die Stewardessen hatten bereits beiderseits des Ausstiegs Aufstellung genommen und ein berufsmäßiges Lächeln aufgesetzt, während ihre männlichen Kollegen durch die Maschine gingen und sich davon überzeugten, daß keiner der Reisenden etwas in der Maschine vergaß.
»Tut es dir leid, daß wir gleich nach Hause geflogen sind?« fragte Mark. »Vielleicht hätten uns nach allem ein paar Tage Urlaub irgendwo in der amerikanischen Wildnis doch ganz gutgetan.«
Vivian schüttelte den Kopf. Anfangs hatte zwar gerade sie auf diesen Urlaub nach Abschluß von Marks geschäftlichen Verhandlungen gedrängt, aber zuletzt war sie es auch gewesen, die sich mit aller Entschiedenheit gegen dieses Vorhaben gestellt hatte.
»Nicht im geringsten«, sagte sie nach einer Weile. »Verkriechen wir uns lieber ein paar Tage auf Hillwood Manor und machen es uns gemütlich.«
Mark zog eine Grimasse. »Verkriechen ist gut«, sagte er. »Wenn du wüßtest, wieviel Arbeit auf meinem Schreibtisch auf mich wartet ...«
»Ich weiß es zwar nicht, aber ich verspreche dir, daß ich ihn höchstpersönlich zerschlage, wenn du ihn auch nur anrührst«, sagte Vivian ernst. »Für die nächsten acht Tage ist alles, was nach Arbeit aussieht, tabu.«
»Sei nicht albern«, widersprach Mark. »Du weißt, daß der Konzern ...«
»Der Konzern wird nicht gleich zusammenbrechen«, unterbrach ihn Vivian energisch. »Außerdem hast du ein paar äußerst fähige Manager. Sollen die sich für ein paar Tage um alles kümmern. Wofür zahlst du ihnen schließlich über eine Viertelmillion Pfund im Jahr? Du bist nicht der einzige im Konzern, der etwas taugt.« Sie entdeckte den trotzigen Ausdruck in Marks Gesicht und mußte lächeln. Von Mark zu verlangen, daß er untätig die Hände in den Schoß legte, käme einer tödlichen Beleidigung gleich. Er gehörte zu den Menschen, die in ihrem Beruf vollkommen aufgingen und nur dann wirklich glücklich waren, wenn sie bis über beide Ohren in Arbeit steckten. »Meinst du nicht, daß auch wir uns mal ein paar Tage Ruhe verdient haben?« fügte sie deshalb hinzu.
»Wären wir wie geplant in Urlaub gefahren, hätte uns auch niemand erreichen können. Aber gut, ich komme dir ein bißchen entgegen. Zwei geschäftliche Telefonate darfst du führen.«
»Das ist ein Wort«, entgegnete er lachend. »Du hast keine Ahnung, wie lange ich telefonieren kann.«
»Und du weißt nicht, wie schnell ich zu einer Schere greifen und das Kabel durchschneiden kann.«
England begrüßte sie mit regenfeuchter Luft und klammer, herbstlicher Kälte, als sie die Maschine verließen. Mark blieb am Fuß der Gangway stehen, reckte sich und atmete demonstrativ ein, als wäre die nach Kerosin, Smog und den anderen Gerüchen einer Großstadt stinkende Luft das Köstlichste, das er je gerochen hatte.
Zwei große Busse kamen über das Flugfeld auf die Maschine zugekrochen. Mark und Vivian warteten, bis der erste Ansturm auf die Sitzplätze vorüber war, ehe sie selbst die Busse bestiegen. Nach dem fast fünfstündigen Flug war Vivian beinahe froh, einen Augenblick lang auf eigenen Beinen stehen zu können. Vor allen Dingen, als sie daran dachte, daß ihnen noch einmal anderthalb Stunden Flugzeit bevorstanden, ehe sie endgültig zu Hause waren. Sie stellte die Reisetasche ab, lehnte sich gegen die Rückseite eines der hohen, lederbezogenen Sitze und schloß für einen Moment die Augen. Eigentlich sollte sie froh sein, heil aus dem haarsträubenden Abenteuer herausgekommen zu sein. Aber die erwartete Erleichterung stellte sich nicht ein. Im Gegenteil - sie fühlte sich niedergeschlagen, deprimiert und erschöpft. Aber es war keine rein körperliche Erschöpfung, sondern etwas, das sehr viel tiefer ging und seine Ursachen irgendwo in ihrer Seele hatte.
Mark berührte sie sanft an der Schulter. »Fühlst du dich nicht wohl?«
Vivian versuchte zu lächeln, aber der Reaktion auf Marks Gesicht nach zu schließen, mißlang das Vorhaben kläglich. »Ich bin müde, das ist alles.«
Mark nickte verständnisvoll. »Wenn du willst, bleiben wir die Nacht in London und reisen erst morgen weiter«, sagte er. »Vielleicht suchen wir uns irgendein gemütliches kleines Hotel in der Stadt.«
Vivian überlegte einen Moment. Der Vorschlag hörte sich verlockend an. Aber dann schüttelte sie doch den Kopf. Vielleicht würden ihre Depressionen von selbst verschwinden, wenn sie in die gewohnte Umgebung von Hillwood Manor zurückkehrte.
Mark zuckte mit den Achseln. »Wie du willst, es war nur gut gemeint.« Er zögerte einen Moment. »Es ist wegen Melissa, nicht wahr? Du glaubst immer noch, daß sie noch lebt.«
»Ich glaube es nicht nur, ich bin mir sogar sicher. Ich ... ich spüre es.« Sie machte eine kurze Pause. »Als ich mit Sheldon zu Ulthars Kabinett unterwegs war, hat er mir gesagt, er könnte fühlen, wenn sein Bruder Schwierigkeiten hätte, und es gibt eine Menge anderer Geschwister, die das von sich behaupten. Melissas Spiegelbild und ich aber stehen uns näher als Geschwister. Sie lebt, und ich bin mir sicher, daß sie über kurz oder lang versuchen wird, uns anzugreifen. Bis dahin möchte ich unbedingt auf Hillwood Manor sein, in vertrauter Umgebung. Ich würde mich dort einfach sicherer fühlen.«
Mark kam nicht mehr zum Antworten. Der Bus hielt, und sie schlenderten eingekeilt in eine lärmende, ungeduldige Menschenmenge, auf das Abfertigungsgebäude zu. Die Zollformalitäten nahmen nur wenige Minuten in Anspruch. Vivian und Mark reisten prinzipiell nur mit einem Minimum an Gepäck - die beiden Handkoffer und die Reisetasche waren alles. Nachdem ihre Pässe kontrolliert worden waren, durchquerten sie mit schnellen Schritten die riesige Halle und verließen das Gebäude durch einen Nebenausgang.
»Ich hoffe, die Maschine ist startklar«, murmelte Mark, während sie quer über den Rasen auf eine Ansammlung niedriger, dunkel gestrichener Gebäude zugingen. »Ich habe keine Lust, jetzt noch einmal stundenlang zu warten.«
»Du hast doch das Telegramm geschickt?«
Mark nickte grimmig. »Sicher. Aber es wäre ja nicht das erste Mal, da irgendein Trottel seinen wohlverdienten Büroschlaf schläft und dann ganz überrascht ist, wenn ich vor der Tür stehe.« Er zog den Kopf zwischen die Schultern, als ein eisiger Windstoß über das Rollfeld fuhr. Es begann zu regnen, und das ferne Grollen eines Gewitters mischte sich unter die Geräusche des Flughafens. Sie begannen zu laufen und erreichten den Hangar im gleichen Augenblick, in dem das Unwetter mit ganzer Macht losbrach. Als Mark die Tür hinter sich zuschob, schienen die Flughafengebäude hinter einem grauen, treibenden Schleier zu verschwimmen. Die Temperaturen fielen innerhalb weniger Augenblicke um mehrere Grade.