Die Stimme des Flugdienstleiters war kaum zu verstehen. Statisches Knistern und kratzende Störgeräusche überlagerten die Verbindung, und Mark hatte Mühe, die Worte aus dem Lärm herauszuhören. »Hier Tower. TK-zero-one, Sie haben Startfreigabe. Nehmen Sie Startbahn siebzehn.«
»Verstanden, Tower. TK-zero-one Ende und aus.« Mark hängte das Mikrophon in die Halterung zurück, griff mit der Linken nach dem Steuerknüppel und gab gleichzeitig Gas. »Ich habe ja gesagt, daß auf Caveman Verlaß ist«, rief er triumphierend.
Vivian gab ein ärgerliches Geräusch von sich. »Das Funkgerät hat jedenfalls besser funktioniert, bevor er die Maschine durchgecheckt hat«, sagte sie gereizt.
Mark sah sie konsterniert an. »Ist dir eine Laus über die Leber gelaufen?« fragte er. Die Worte taten ihm fast sofort wieder leid, aber Vivian schien an seinem rüden Ton keinen Anstoß zu nehmen. »Entschuldige«, sagte er sanft.
»Flieg lieber los. Ich habe keine Lust, auf diesem verdammten Flugplatz Wurzeln zu schlagen.«
Mark schluckte die wütende Entgegnung, die ihm auf der Zunge gelegen hatte, herunter und konzentrierte sich auf den Startvorgang. Die Cessna machte einen wilden Satz, als er den Gashebel viel zu hart nach vorne stieß, und schoß mit aufbrüllendem Motor auf die Startbahn hinaus. Den Männern im Tower mußten die Haare zu Berge stehen, wenn sie den Vorgang beobachteten.
Der Regen war mittlerweile stärker geworden. Das Rollfeld schimmerte wie ein riesiger, mattgrauer Spiegel, und die Wolken schienen so tief zu hängen, daß Mark fast damit rechnete, den schlanken Turm des Towers in den treibenden grauen Massen verschwinden zu sehen. Der Wind zerrte und rüttelte an den Tragflächen der kleinen Maschine, aber im Norden klarte der Himmel bereits jetzt auf. Ein heller, goldgelber Streifen wuchs langsam in der grauen Wolkenbank empor. Der Wetterbericht schien also ausnahmsweise einmal nicht frei erfunden zu sein, dachte Mark zufrieden. Über Nordengland mußte strahlender Sonnenschein herrschen.
Er wartete ungeduldig, bis die Nadel des Geschwindigkeitsmessers die Hundert-Meilen-Marke erreicht hatte, ehe er den Steuerknüppel langsam zu sich heranzog. Die stumpfe Nase des Sportflugzeuges folgte der Bewegung gehorsam, während das Rollfeld unter ihnen in die Tiefe stürzte. Mark riß die Maschine so steil empor, wie es nur ging. Er flog noch nicht allzu lange, aber er wußte, daß solche Gewitterfronten oftmals sehr niedrig hingen. Niedrig genug, um selbst für ein so kleines Flugzeug wie dieses kein ernsthaftes Hindernis dazustellen. Für zehn, fünfzehn Sekunden tauchte die Cessna in wirbelnden, grauweißen Nebel ein, dann hatte sie die Wolkendecke durchstoßen.
Mark atmete erleichtert auf, als der bockende Steilflug in ein sanftes Gleiten überging. Unter ihnen wetterleuchteten grelle Blitze durch die Wolkenbank, und ein Blick nach Süden zeigte ihm, daß der Himmel dort schwarz war.
»Das Schlimmste ist überstanden«, sagte er. »In anderthalb Stunden sind wir zu Hause.« Er warf einen Blick auf den Kompaß, korrigierte den Kurs um mehrere Grad und schaltete den Autopiloten ein, ehe er sich entspannt zurücksinken ließ.
Vivian saß zusammengekauert neben ihm und starrte aus dem Fenster. Mark konnte ihr Gesicht nur im Profil sehen, aber auch so war die Veränderung deutlich zu erkennen. Eigentlich war es nichts Äußerliches - die junge, dunkelhaarige Frau neben ihm war noch die gleiche, mit der er vor wenigen Tagen hierhergeflogen war. Ihre Augen blickten vielleicht ein wenig ernster als sonst, und die Anstrengungen der letzten Tage hatte tiefe Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen: dunkle Ringe unter ihren Augen und einen bitteren, resignierenden Zug, den er zuvor noch nie an ihr bemerkt hatte. Mark fragte sich besorgt, ob alles nicht vielleicht auch für sie zuviel gewesen war. Vivian wirkte depressiv, ängstlich ... unentschlossen in allem, was sie sagte oder tat. Schon der bloße Gedanke an Melissa machte sie offenbar krank.
Vivian schien seinen Blick zu spüren. Sie drehte sich halb um, sah ihm einen Herzschlag lang in die Augen und wandte sich dann wieder ab.
Mark zündete sich umständlich eine Zigarette an, starrte einen Moment lang in die Glut und klappte den Aschenbecher auf. »Mach dir nicht zu viele Sorgen«, sagte er. »Wir werden neue Leibwächter einstellen. Ich lasse unser Haus rund um die Uhr bewachen.«
Vivian antwortete nicht sofort. Sie seufzte, schüttelte unmerklich den Kopf und fuhr sich mit einer fahrigen Geste durch die Haare. »Leibwächter?« Sie lächelte traurig, sah ihn kurz an und blickte dann wieder aus dem Fenster. Die Wolkendecke unter dem Flugzeug schien sich wie ein riesiges, lebendes Wesen zu bewegen. »Du kennst doch Melissas Macht. Nicht einmal eine ganze Armee von Leibwächtern könnte etwas gegen diese Frau ausrichten. Wir würden nur Unschuldige gefährden.«
Mark zögerte. »Und was sollen wir deiner Meinung nach tun? Einfach die Hände in den Schoß legen und abwarten?«
Vivian zuckte unbehaglich mit den Schultern. »Wenn überhaupt jemand Melissa aufhalten kann, dann bin ich es«, behauptete sie. »Ich bin überzeugt, daß sie ebensoviel Angst vor mir hat wie ich vor ihr. Wir haben die gleichen Kräfte, auch wenn sie diese viel, viel besser beherrschen kann. Aber ...« Vivian brach abrupt ab und starrte durch die Frontscheibe nach draußen. Ihre Augen weiteten sich erstaunt. »Mark - was ist das?«
Vor ihnen, vielleicht noch fünf, sechs Meilen entfernt, hatte sich ein riesiges, dunkles Etwas aus der Wolkendecke gehoben. Im ersten Augenblick hatte Mark den Eindruck, direkt auf ein riesiges, mißgestaltetes Ungeheuer zuzufliegen, das der Maschine mit gigantischen Armen entgegenzugreifen schien. Aber dann erkannte er, daß es nur eine Wolke war, wenn auch eine sehr sonderbare Wolke. Es war nicht allein ihre dunkle, rauch-braune Farbe, die Mark beunruhigte. Das Phänomen stand in krassem Gegensatz zu allem, was er je über Meteorologie und Aeronautik gehört hatte. Sie türmte sich in einer riesigen, kompakten Halbkugel über dem brodelnden Wolkenmeer auf. Ihre Oberfläche schien zu kochen. Graue, faserige Nebelschleier wuchsen wie bizarre Arme aus der Wolkenkugel hervor.
»Ein ... Sturm?« fragte Vivian zögernd.
Mark schüttelte den Kopf. »Unmöglich. Aber was immer es ist - mir gefällt es nicht. Ich fliege lieber darum herum.« Er klappte seinen Sitz nach vorne, schaltete den Autopiloten aus und griff nach dem Steuerknüppel.
Aber die Maschine gehorchte ihm nicht!
Mark fluchte lauthals, betätigte das Höhenruder und zog den Steuerknüppel nach rechts. Die Cessna flog stur geradeaus, als würde sie an einem unsichtbaren Seil gezogen.
»Das ... das gibt es doch nicht«, stieß Mark verblüfft hervor. »Das ist doch unmöglich!« Er versuchte es noch einmal, aber auch diesmal verweigerte ihm das Flugzeug den Gehorsam. Die Maschine folgte unbeirrbar dem einmal eingeschlagenen Kurs.
Die Wolkenbank wuchs mit beängstigender Geschwindigkeit vor ihnen empor. Mark konnte erst jetzt erkennen, daß die Luft dort vorne regelrecht zu kochen schien. Riesige Wirbel und Trichter bildeten sich auf der Oberfläche der gespenstischen Wolke, gigantische Strudel, in denen die kleine Maschine wie ein Spielzeug zerschmettert werden mußte.
»Mark! Das ist eine Falle!« schrie Vivian plötzlich. »Ich spüre ...«
Mark nickte entsetzt. Auch ihm war mittlerweile klar geworden, daß das Phänomen mit menschlicher Logik nicht zu erklären war. Diese Wolke dort vorne war nicht auf natürlichem Wege entstanden. Hier war Magie im Spiel. Noch vor wenigen Tagen hätte er diesen Gedanken als lächerlich abgetan. Er hatte zwar gewußt, daß Vivian über einige Fähigkeiten verfügte, die über die anderer Menschen hinausgingen und sich am leichtesten mit dem Wort Magie umschreiben ließen, aber sein Glaube daran hatte sich auf etwas Wahrsagerei, Kartenlegen und dergleichen mehr beschränkt. Erst seit den Ereignissen in New York und auf der Spiegelwelt wußte er, daß es weit größere magische Kräfte gab; Kräfte, die auch in der Lage waren, so etwas zu bewirken.