»Nehmen Sie Platz, Missis Taylor.«
Vivian gehorchte. Hedon schob ihr eine Tasse Tee herüber und bot ihr eine Zigarette an. Sie griff mit einem dankbaren Nicken danach und ließ sich Feuer geben.
»Mister Klugman, unser Dorfpolizist«, erklärte Hedon mit einem flüchtigen Lächeln. »Und das«, er deutete auf Vivian, »ist Missis Taylor.«
Klugman nippte an seinem Tee, griff in seine Uniform und förderte einen Schreibblock und einen kaum fünf Zentimeter langen Bleistiftstummel zutage. »Ich kann mir vorstellen, daß Ihnen jetzt nicht danach ist, lästige Fragen zu beantworten«, sagte er bedauernd. »Aber es muß sein. Ich werde mich bemühen, es so kurz wie möglich zu machen. Aber ich muß zumindest Ihre Personalien aufnehmen.«
»Das macht nichts«, entgegnete Vivian. »Im Gegenteil - ich bin ganz froh, ein wenig Ablenkung zu haben. Der Schreck sitzt mir noch immer in den Knochen.«
Klugman lächelte verständnisvoll und befeuchtete die Spitze seines Bleistifts mit der Zunge. »Ihr Name ist also Taylor.«
»Vivian Taylor«, bestätigte Vivian.
Klugman kritzelte etwas, stockte und sah dann auf. »Vivian Taylor?« fragte er. »Haben Sie irgend etwas mit dem Taylor-Konzern zu tun?«
»Er gehört meinem Mann und mir«, sagte Vivian.
Klugman schwieg eine ganze Weile. Seine Stimme klang um mehrere Tonlagen freundlicher, als er weitersprach. »Jack sagte irgend etwas von einem Sturm, in den sie geraten sind?«
Vivian antwortete nicht sofort. Der Zweifel in Klugmans Stimme war unüberhörbar.
»Sie müssen mich verstehen«, sagte Klugman hastig, als er ihr Zögern bemerkte. »Es ist nicht gerade an der Tagesordnung, daß ein Flugzeug abstürzt. Und bei jemandem wie Ihnen ...«
»Ja?«
»Nun.« Klugman rang verzweifelt nach Worten. »Sehen Sie, Misses Taylor, Prominente wie Sie haben gewöhnlich Feinde, und ...«
Vivian lächelte gegen ihren Willen, als Klugman abbrach. Wahrscheinlich beschränkten sich die Fälle, die er normalerweise zu untersuchen hatte, auf das Einfangen entlaufener Katzen oder das Aufklären von Hühnerdiebstählen, und jetzt, als wirklich einmal etwas Aufregendes passierte, ging seine Phantasie mit ihm durch. Dabei hatte er nicht einmal so unrecht - wenn auch auf eine ganz andere Art, als er dachte.
Vivian schüttelte den Kopf. »Es war ein Unfall, Mister Klugman, das ist ganz sicher. Ich wüßte niemanden, der mir nach dem Leben trachtet. Außerdem gäbe es einfachere Methoden.«
»Wir müssen das Flugzeugwrack trotzdem vorerst beschlagnahmen«, sagte er unsicher. »Es gibt gewisse Vorschriften, die ...«
Vivian nickte. »Weiterfliegen können wir sowieso nicht«, erklärte sie.
Klugman lächelte gezwungen. Offensichtlich wurde ihm die Situation mit jeder Sekunde peinlicher. »Ihr Mann ... äh ... Mister Taylor ist derzeit beim Arzt«, sagte er lahm. »Ich hoffe, er wird wiederkommen, wenn ... wenn ...«
Vivian sah den Polizisten kühl an. »Besteht irgendein Grund für uns, länger als unbedingt nötig hierzubleiben?« fragte sie.
Klugman schüttelte irritiert den Kopf. »Eigentlich nicht. Sie ... wollen natürlich weiter. Dringende Geschäfte, nehme ich an.«
»Das stimmt. Es wird sicher ein paar Tage dauern, ehe die Untersuchung abgeschlossen ist. Ich hoffe, wir müssen nicht so lange dableiben.«
»Das nicht. Sie sollten sich natürlich zu unserer Verfügung halten - aber ich denke, Sie können Weiterreisen, wenn Sie müssen.«
»Aber erst morgen«, mischte sich Hedon ein. »Es wird ja schon bald dunkel. Sie können und Ihr Mann können diese Nacht gerne hier schlafen.«
Vivian zögerte. »Wir möchten uns auf keinen Fall aufdrängen ...«
Hedon machte eine wegwerfende Handbewegung. »Sie drängen sich nicht auf. Wir haben genug Platz. Außerdem glaube ich nicht, daß heute noch ein Zug fährt, und es gibt im Ort kein anständiges Hotel. Hier passiert auch so wenig, daß wir uns über jeden Besuch freuen.«
Vivian blieb unschlüssig. »Wenn es Ihnen wirklich nichts ausmacht ...«
»Das macht es nicht. Malcolm kann Sie morgen in aller Frühe zum Bahnhof bringen. Oder wir bestellen Ihnen ein Taxi - wie Sie wollen.« Er stand auf, ging zur Tür und rief nach seiner Frau.
»Mary wird ein Zimmer vorbereiten«, sagte er, als wäre es bereits beschlossene Sache, daß Mark und Vivian hierblieben.
»Eigentlich ...« begann Vivian, wurde aber sofort wieder unterbrochen.
»Nichts eigentlich«, sagte Hedon entschieden. »Falsche Bescheidenheit ist hier völlig unangebracht. Sie brauchen Ruhe. Sie haben bei dem Absturz mit Sicherheit einen Schock erlitten, auch wenn Sie jetzt vielleicht noch nichts spüren.«
Vivian nickte ergeben, senkte den Blick und nippte an ihrem Kaffee. Plötzlich spürte sie erneut, wie müde sie war. Eine wohltuende, sanfte Lähmung schien sich von innen heraus in ihrem Körper auszubreiten.
Klugman stand geräuschvoll auf. »Ich werde hinüberfahren und mir die Absturzstelle ansehen«, erklärte er, während er seinen Schreibblock umständlich verstaute. »Danach muß ich mit meinen Vorgesetzten telefonieren. Ich denke, wir sehen uns nachher noch einmal. Ich muß noch ein paar Worte mit Ihrem Mann wechseln, schließlich war er der Pilot.« Er nickte Hedon zum Abschied zu und verließ die Küche. Wenige Augenblicke später hörte Vivian, wie sein Wagen angelassen wurde.
Sie leerte ihre Teetasse, drückte die Zigarette aus und stand schwankend auf. Der Raum schien sich vor ihren Augen zu drehen. Sie stöhnte, preßte die Handflächen gegen die Schläfen und machte einen unsicheren Schritt.
»Fühlen Sie sich nicht wohl?« fragte Hedon. Seine Stimme klang seltsam verzerrt.
Vivian versuchte zu antworten, aber es ging nicht. Ihre Stimme schien ihrem Willen nicht mehr zu gehorchen. Die Dimensionen des Raumes stimmten plötzlich nicht mehr. Die Wände wichen auseinander, und da, wo gerade noch der Küchentisch gewesen war, befand sich plötzlich ein riesiges, wirbelndes Nichts, ein schwarzer Strudel aus Vergessen und Schlaf.
»Kommen Sie, ich bringe Sie auf Ihr Zimmer«, sagte eine gleichermaßen vertraute wie fremde Stimme, Jemand berührte sie sanft an der Schulter. Sie sah auf, machte eine instinktive Abwehrbewegung und wäre gestürzt, wenn nicht plötzlich starke Hände nach ihr gegriffen und sie aufgefangen hätten. »Sehen Sie, Missis Taylor, das habe ich gemeint«, sagte Hedon. Er griff sanft unter ihre Schulter und führte sie wie ein kleines Kind vor sich her.
Irgendwo tief in ihr begann eine warnende Stimme zu schreien, aber sie fühlte sich zu schwach, um darauf zu hören. Sie taumelte durch den Flur, fiel die Treppe hinauf, als sie ging, und wankte schließlich willenlos auf das breite, weißbezogene Bett zu, zu dem Hedon sie führte.
»Ruhen Sie sich eine Stunde aus, dann geht es Ihnen besser«, sagte er. Seine Stimme schien einen bösen, gehässigen Unterton zu haben.
Vivian sank seufzend auf das Bett nieder. Hedon griff nach ihren Füßen, zog ihr wie ein fürsorglicher Vater die Schuhe aus und breitete dann ein dünnes, weißes Laken über ihr aus. Vivian war zu schwach, um sich zu wehren. Das Geräusch, mit dem er die Tür hinter sich zuzog, schien wie ein Donnerschlag durch den winzigen Raum zu hallen.
Sie war allein.
Allein?
Nein - sie war nicht allein. Irgend etwas Fremdes befand sich noch im Raum. Unsichtbar, ungreifbar, lautlos. Es war, als wären die Schatten in Ecken und Winkeln plötzlich von lauerndem, bösen Leben erfüllt.
Vivian zwang sich, die Augen zu öffnen und die niedrige Decke anzusehen. Die Maserung der gehobelten Deckenplatten bildete plötzlich ein verwirrendes, hypnotisches Muster, sinnverdrehende Zeichen und Linien, die ihren Blick zwangen, ihnen zu folgen. Langsam, fast wie in Trance stand Vivian auf. Sie trat auf einen Spiegel zu, der an einer Wand des Zimmers hing und musterte ihr Gesicht, das ihr daraus entgegenstarrte.