Dann löste sich die Falltüre und das Monster begann abzustürzen. Es schlidderte wild und scheppernd die Steinrampe hinunter. Es war so begierig gewesen, den Fährtensucher zu schnappen, daß es die Falle vergessen hatte. Jetzt hatte es den Schleicher erwischt, und er rutschte hinunter und außer Sicht. Pe Ell schrie entzückt auf.
Doch plötzlich kamen die Tentakel zum Vorschein und klammerten sich an steinerne Vorsprünge – eine Ecke der Stufen des Beckens, ein Stück einer halb eingestürzten Mauer, was immer sie fanden. Und das Vieh rutschte nicht mehr. Staub stieg auf und verdunkelte alles. Pe Ell zögerte, vergaß einen Augenblick lang an dem Seilzug zu ziehen, der Dees festhielt. Dann hörte er den alten Mann brüllen. Er riß heftig an den Seilen, doch sie rührten sich nicht. Etwas zog am anderen Ende, etwas, das weit mehr Kraft hatte als er. Er hatte zu lange gewartet. Der Kratzer hatte Horner Dees.
Pe Ell zauderte nie. Er dachte nicht an sein Versprechen; sein Wort zu halten, war ihm nie wichtig erschienen. Er reagierte nur. Er ließ die Seile fallen, sprang von der Mauer und raste durch das steinerne Becken auf die Straße. Er sah den alten Fährtensucher mit Händen und Füßen um sich schlagend, einen Fangarm um seinen stämmigen Leib gewickelt, über den Stein zum Rand des Lochs rutschen. Er erreichte Horner Dees gerade in dem Moment, in dem der alte Mann im Loch verschwinden würde. Mit einem Hieb des Stiehls wurde der Fangarm durchtrennt, ein zweiter zerschnitt die Seile des Flaschenzugs.
»Hau ab!« brüllte Pe Ell und stieß den kräftigen Mann vorwärts.
Ein Tentakel schlängelte sich näher und versuchte, ihm die Arme zu fesseln. Er wand sich, die Klinge des Stiehls glühte mit magischer Kraft, und der Fangarm fiel ab. Pe Ell raste nach links und zerschnitt die Tentakel, die den Kratzer festhielten. Staubwolken stiegen in die Luft und vermischten sich mit dem Dunst, bis man kaum noch etwas erkennen konnte. Pe Ell folgte seinem Instinkt. Er huschte und sprang zwischen dem Gewirr von Tentakeln herum, und zerhackte einen nach dem anderen. Dann hörte er ein Knirschen, und das Monster begann wieder abzurutschen.
Noch einmal fuchtelten die Tentakel wild in der Luft herum, dann war der Kratzer verschwunden. Er stürzte von der Rutsche und hinunter in den Abgrund. Pe Ell unterdrückte seine Erleichterung und raste wieder zurück, um Dees zu suchen. Er fand ihn, wie er erschöpft an den Stufen des Beckens entlangkroch. »Steh auf!« brüllte er, riß ihn auf die Füße und stieß ihn vorwärts.
Hinter ihnen zerbarst der Boden, und Steinbrocken flogen hoch in die Luft. Die beiden Männer stolperten und fielen und schauten sich um.
Der letzte Akt von Horners Plan kam zur Erfüllung.
Aus den Tiefen von Eldwist stieg wütend der Malmschlund, der von dem Aufprall des Kratzers geweckt worden war. Der monströse Wurm brüllte und schüttelte sich, als er sich himmelwärts hob. Sein zerklüfteter, schuppiger Schlangenleib glänzte und war so gigantisch, daß er das graue Tageslicht verdüsterte. Der Kratzer hing ihm aus dem Maul, verwandelte sich langsam zu Stein unter der Berührung des Gifts, sein Strampeln wurde schwächer. Der Malmschlund hielt ihn einen Augenblick lang fest, dann schleuderte er ihn fort, wie es ein Hund mit einer Ratte tun würde. Der Kratzer flog durch die Luft und prallte gegen eine Hauswand. Die Mauer stürzte unter dem Aufprall ein, und der Kratzer zerbarst in Stücke.
Der Malmschlund ließ sich wieder unter die Erde gleiten, und sein Getöse verklang. Die Staubwolken legten sich langsam, und es wurde wieder heller.
Impulsiv packte Pe Ell die Hand von Horner Dees und drückte sie. Ihr Keuchen war das einzige Geräusch, das in der darauffolgenden Stille zu hören war.
Unter der Erde, in der Höhle unter der Kuppelfestung des Steinkönigs, verklang das Getöse des erwachten Malmschlunds und wich dem Branden des Ozeans gegen Eldwists Felsenriffs. Morgan Leah hob sein sonnengebräuntes Gesicht und spähte durch den Dunst.
»Was war das?« flüsterte er.
Walker Boh schüttelte den Kopf. Er wußte die Antwort nicht. Er konnte das Beben der Erde noch fühlen, das Echo von des Monsters Wut. Irgend etwas hatte es aufgeschreckt – das war nicht sein normales Erwachen. Die Reaktion der Kreatur war anders gewesen, als auf den Befehl des Steinkönigs, ungeduldiger, heftiger.
»Schläft er wieder?« drängte der Hochländer ängstlich, besorgt, in der Falle zu sitzen.
»Ja.«
»Und er?« Morgan zeigte in den Dunst. »Weiß er davon?«
Uhl Belk. Walker prüfte durch Schichten von Felsen hindurch, was wohl im Gange war. Aber er war zu weit weg, der Stein zu dicht, um mit seiner Magie hindurchdringen zu können. Es ginge nur, wenn er ihn damit berührte, doch wenn er das täte, würde der Steinkönig alarmiert werden.
»Er ruht noch immer«, antwortete Quickening unerwartet. Sie trat neben ihn, ihr Gesicht glatt und ruhig, ihre Augen in die Ferne gerichtet. Der Wind zauste ihr Silberhaar und wehte es ihr ins Gesicht. Sie stemmte sich dagegen. »Keine Sorge, Morgan. Er hat keine Veränderung bemerkt.«
Doch Walker spürte es, was immer es war, genau wie das Mädchen. Kaum wahrnehmbar bislang, doch die Wirkungen begannen anzuschwellen. Es war etwas jenseits des Verstreichens von Zeit, der Erosion von Fels und Stein. Der Wind wisperte es, die Erde hallte davon wider, und die Luft atmete es. Als Kinder der Magie hatten sowohl die Tochter des Königs vom Silberfluß als auch der Dunkle Onkel sein Kräuseln gefühlt. Nur der Hochländer merkte es nicht.
Walker Boh wurde plötzlich von unerwarteter Eile erfaßt. Die Zeit raste davon.
»Wir müssen uns sputen«, sagte er und machte sich wieder auf den Weg. »Schnell jetzt. Kommt.«
Er führte sie nach links über den glitschigen, unebenen Felsrand. Mit dem Rücken zur Wand tasteten sie sich vorsichtig auf dem an manchen Stellen nur wenige Zentimeter breiten Sims entlang. Die Meereswellen sprühten sie mit jedem neuen Brecher naß. Jenseits der Stelle, wo sie sich befanden, erstreckte sich die Höhle in die Ferne wie eine weite, verborgene Welt, und es war, als könnten sie die Augen ihrer unsichtbaren Bewohner auf sich gerichtet fühlen.
Der Felsvorsprung endete vor einem Stollen, der in die Finsternis führte. Walker Boh hob sein magisches Silberlicht, und eine Treppe wurde sichtbar, die sich aufwärts in den Fels spiralte.
Walker begann hinaufzusteigen. Morgan und Quickening folgten ihm wie Schatten.
29
Als Junge hatte Morgan Leah oft in den kristallgespickten Höhlen östlich der Stadt gespielt. Die Höhlen waren Jahrhunderte zuvor entstanden und von unzähligen Generationen erforscht und schließlich vergessen worden, der steinerne Boden war abgetreten und glatt von vielen Füßen und verstrichener Zeit. Sie hatten die Großen Kriege, die Kriege der Rassen, das Eindringen von Lebewesen aller Art und selbst das Feuer der Erde überstanden, das direkt darunter glimmte. Die Höhlen waren strahlend leuchtende Löcher, die Decken dicht mit Stalaktiten behangen, klare Wassertümpel und dunkle Senklöcher im Boden. Ihre Kammern waren durch ein Netz enger, gewundener Stollen miteinander verbunden. Es war gefährlich, in die Höhlen zu gehen, das Risiko, sich zu verirren, war sehr groß. Aber für einen abenteuerlustigen Hochlandjungen wie Morgan Leah war die Aussicht auf Gefahr nichts als eine Verlockung.