Die Hand des Steinkönigs wedelte die Lichtpartikel ab, die aus ihrem Körper strahlten, ein unbewußter Versuch, sich dagegen abzuschirmen. Doch dann zog er seine Hand heftig zurück und schnappte unter Qualen nach Luft.
– Nein –
Es klang wie ein Angstschrei. Er reckte sich auf, gefangen in einem unsichtbaren Netz, das ihn umfing und festhielt.
– Oh, Kind; ich sehe dich jetzt; ich glaubte, mit dem Malmschlund ein unglaubliches Monster geschaffen zu haben; aber dein Vater hat mit dir Schlimmeres vollbracht –
Seine Stimme klang rauh, erstickt, als könne er die Worte nicht hervorbringen.
– Kind des Wandels und der Evolution, du bist die unaufhaltsame, quecksilbrige Bewegung des Wassers selbst; ich sehe, wozu du in Wahrheit ausgesandt worden bist; ich bin schon zu lange versteinert, so daß es mir entgangen ist; ich hätte es merken müssen, als du das erste Mal herkamst, daß du der Wahnsinn bist; ich bin in der Beständigkeit, die ich suchte, gefangen und war so blind wie jene, die mir dienen; das Ende meines Lebens steht in meiner eigenen Handschrift vor mir geschrieben –
»Uhl Belk.« Quickening flüsterte seinen Namen wie ein Gebet.
– Wie kannst du geben, was von dir gefordert wird, nachdem du von so vielem gekostet hast –
Morgan verstand nicht, was der Steinkönig meinte. Er schaute zu Quickening und fuhr überrascht zusammen. Ihr Gesicht war schuldbewußt verzerrt, ein Spiegel der verborgenen Geheimnisse, die er immer vermutet, aber nie hatte glauben wollen.
Die Stimme des Steinkönigs war ein leises Zischen.
– Verlasse mich, Kind; geh in die Welt zurück und tue, was getan werden muß, um unser aller Schicksal zu besiegeln; dein Sieg über mich muß dir hohl und bitter erscheinen, wenn der Preis, den du dafür zahlen mußt, so teuer ist –
Auch Walker Boh hatte die Augen weit aufgerissen und die Stirn gerunzelt. Auch er schien nicht zu verstehen, was Uhl Belk damit meinte. Morgan setzte an, um Quickening zu fragen, was eigentlich vor sich ginge, doch dann zögerte er unsicher.
Plötzlich riß Uhl Belk mit scharfem Krachen den Kopf hoch.
– Horch –
Die Erde begann zu zittern, ein leises Donnern, das aus der Tiefe drang und langsam immer lauter wurde. Morgan Leah hatte das Geräusch schon gehört.
– Er kommt –
Der Malmschlund.
Walker begann zurückzuweichen und brüllte Quickening und Morgan zu, sie sollten ihm folgen. Er schrie zu dem Steinkönig: »Laß uns hinaus, Uhl Belk, wenn du dich selber retten willst! Tu es jetzt! Schnell!«
Walker hob den Arm und drohte mit der Faust, die den schwarzen Elfenstein hielt. Uhl Belk schien es kaum wahrzunehmen. Sein Gesicht war noch eingefallener, noch mitgenommener denn je, eine Parodie menschlicher Züge, das Gesicht eines Monsters, das über alle Maßen häßlich geworden war. Die Stimme des Riesen zischte wie die einer Schlange durch das Getöse des herannahenden Malmschlunds.
– Flieht, ihr Dummköpfe –
Kein Zorn klang in seiner Stimme mit – nur Enttäuschung und Leere. Und noch etwas, dachte Morgan Leah verwundert. Hoffnung klang darin, ein Fünkchen Hoffnung, ein Verstehen jenseits des Verständnisses des Hochländers, die Aussicht auf eine Möglichkeit, die alles andere überstieg.
Ein Segment der massiven Kuppelwand spaltete sich knirschend und krachend direkt hinter ihnen, und graues Tageslicht drang herein.
– Flieht –
Morgan Leah stürmte augenblicklich auf die Öffnung zu, gejagt von Dämonen, die er lieber nicht sehen wollte. Er fühlte mehr als er sah, daß der Steinkönig ihm nachschaute. Quickening und Walker kamen hinterdrein. Sie erreichten die Öffnung und stürmten hinaus in den grauen Tag auf der Flucht vor der rasenden Wut des herannahenden Malmschlunds.
30
Es war, als sei der Malmschlund wahnsinnig geworden.
Zweimal zuvor hatten die drei Fliehenden die Ankunft des Monsters gesehen, einmal war es aufgetaucht, als sie vom Berg aus auf die Stadt geschaut hatten, und einmal, als Uhl Belk es herbeigerufen hatte. Und es war kein Tag vergangen, seit sie in Eldwist waren, daß sie nicht das Rumpeln des Geschöpfs in den Tunneln unter der Stadt gehört hätten, wenn es bei Einbruch der Nacht erwachte und in der Dunkelheit auf Jagd ging. Und jedesmal war seinem Herannahen das unverwechselbare, dumpfe Dröhnen vorausgegangen. Jedesmal hatte die Stadt gebebt.
Aber so wie jetzt war es noch nie gewesen.
Die Stadt Eldwist war wie ein Tier, das sich aus einem bösen Traum wachschüttelt. Türme und Gebäude schwankten und zitterten, und lockere Steine und Splitter prasselten in dichten Staubwolken zu Boden. Die Straßen drohten sich aufzuwölben, der Stein bekam Risse und Spalten, Falltüren brachen ein, als ihre Riegel sich lösten, Verankerungen und Stützen zerbarsten. Ganze Treppenfluchten, die in die Tunnel hinunterführten, stürzten ein und verschwanden unter den Trümmern, und Brückenstege zwischen Häusern krachten herunter. Vor grauem Dunst und Wolken schimmerte Eldwist wie eine vergehende Fata Morgana.
Walker Boh raste aus der Kuppel des Steinkönigs und erreichte kaum den nächstgelegenen Gehsteig, als er von der Erschütterung umgeworfen wurde. Er drückte den Arm gegen die Brust, um den schwarzen Elfenstein nicht zu verlieren, und fing den Sturz mit der Schulter auf, einen heftigen Schlag, und er rutschte weiter und krachte mit solcher Wucht gegen die Mauer eines Hauses, daß ihm die Luft wegblieb. Einen Augenblick war er wie betäubt, Sterne tanzten vor seinen Augen. Als er wieder klar sehen konnte, entdeckte er Quickening und Morgan auf dem Boden liegen. Auch sie hatte es von den Füßen gerissen.
Mühsam rappelte er sich wieder auf und brüllte ihnen zu, sie sollten ihm folgen. Während er wartete, daß sie wieder aufstanden, jagten ihm die Gedanken durch den Sinn. Er hatte Uhl Belk mit dem schwarzen Elfenstein gedroht und gesagt, er würde seine Magie gegen die Stadt einsetzen, wenn sie nicht freigelassen würden. Das war eine leere Drohung. Er konnte den Elfenstein so nicht einsetzen, ohne sich selbst zu zerstören. Sie hatten Glück, daß Uhl Belk nicht wußte, wie die Druidenmagie funktionierte. Aber auch so waren sie noch nicht frei. Was sollten sie tun, wenn der Malmschlund hinter ihnen herkam? Und es stand zu erwarten, daß er das tun würde. Die Magie des schwarzen Elfensteins hatte ein Band zwischen Vater und Sohn, Geisterlord und Monster geschaffen, und Walker Boh hatte dieses Band zerrissen. Der Malmschlund spürte es schon; er war daraufhin erwacht. Sobald er entdeckte, daß der Elfenstein verschwunden war, daß der Steinkönig ihn nicht mehr in seinem Besitz hatte, was würde das Biest dann hindern, die Verfolgung aufzunehmen?
Walker Boh zog eine Grimasse. Es stand völlig außer Frage, wie diese Jagd enden würde. Er konnte den schwarzen Elfenstein ebensowenig gegen den Malmschlund benutzen.
Ein Steinblock, groß genug, um ihn unter sich zu begraben, krachte wenige Meter vor ihm auf die Straße und schleuderte den Dunklen Onkel ein zweites Mal zu Boden, Quickening hetzte vorbei, ihr schönes Gesicht seltsam verzerrt, und raste weiter. Morgan tauchte auf, bückte sich, als er neben Walker war, und half ihm wieder auf die Beine. Zusammen rannten sie weiter, schlugen Bögen um die wachsenden Schutthaufen, übersprangen Spalten und Risse.
»Wo sollen wir hin?« rief der Hochländer und zog den Kopf ein.
Walker machte eine unbestimmte Geste. »Raus aus der Stadt, runter von der Halbinsel, zurück auf den Berg!«
»Und Horner Dees?«
Walker hatte den Fährtensucher völlig vergessen. Er schüttelte den Kopf. »Wenn wir ihn finden, nehmen wir ihn mit! Aber wir können nicht nach ihm suchen! Wir haben keine Zeit!« Er verstaute den Elfenstein in der Tasche seines Kittels und packte im Laufen Morgans Arm. »Hochländer, bleib bei Quickening. Die Sache ist noch nicht ausgestanden! Sie schwebt in Gefahr!«
Morgans Augen leuchteten weiß aus seinem dreckverschmierten Gesicht. »Welche Gefahr, Walker? Weißt du etwas? Was meinte Uhl Belk vorhin, als er ihren Sieg als hohl bezeichnete, und mit dem Preis, den sie zu zahlen hätte? Was meinte er?«