Pe Ell schlüpfte durch Eldwists Dunst des späten Morgens, hielt das Mädchen dabei eng an sich gedrückt und dachte darüber nach, daß diese ganze Reise ein Puzzle mit zu vielen fehlenden Teilen gewesen war. Sie waren hergekommen, um den Steinkönig zu suchen – doch es waren die anderen, nicht Pe Ell, die ihn gefunden hatten. Sie waren gekommen, um den schwarzen Elfenstein zu holen – doch es waren die anderen, nicht Pe Ell, denen es gelungen war. Die Magie des Stiehls war die mörderischste von allen Magien – doch welchem Zweck hatte sie gedient?
Unbehagen stahl sich in sein Bewußtsein wie ein Dieb und untergrub seine Freude, beides zu haben – Quickening und den Stein.
Irgend etwas stimmte nicht, und er wußte nicht, was es war. Er mußte das Gefühl haben, alles sei unter seiner Kontrolle, aber es war nicht so.
Sie schwenkten zurück auf eine nach Süden führende Straße, glitten zwischen den Häusern entlang wie zwei verstohlene Schatten, die durch den Dunst zum Licht flüchteten. Pe Ell verlangsamte ihren Lauf. Er fing an zu ermüden. Er spähte durch den dünnen Regenschleier und blinzelte unsicher. War dies der Weg, den er hatte einschlagen wollen? Irgendwie schien es ihm nicht richtig. Er schaute erst nach links, dann nach rechts. War das nicht genau die Straße, die er eigentlich hatte vermeiden wollen? Er war verwirrt und fühlte Quickenings Blick, aber er weigerte sich, ihm zu begegnen.
Er führte sie eine weitere Straße entlang, und sie gelangten auf einen breiten Platz, der von einer von Bänken gesäumten Vertiefung beherrscht wurde. Die Bänke waren verfallen und einige waren umgekippt, und Reste von Pfosten, an denen einst Fahnen geweht hatten, standen rundum. Er steuerte geradewegs nach links auf einen überwölbten Durchgang zwischen den Häusern zu, um die Straße dahinter zu erreichen, als er seinen Namen rufen hörte. Er schnellte herum, riß das Mädchen vor sich und hielt ihr die Klinge des Stiehls an die Kehle.
Morgan Leah stand auf der anderen Seite des Platzes. Pe Ell riß die Augen auf. Wie hatte der Hochländer ihn finden können? Er hatte einfach nur Glück gehabt, sagte er sich hastig. Weiter nichts. Entsetzen paarte sich mit Wut. Was immer für ein Unglück aus dieser Begegnung resultieren würde – ihn sollte es nicht treffen.
Der Hochländer schien nicht zu wissen, was im Gange war. »Was machst du da, Pe Ell?« rief er durch den Wald abgebrochener Pfosten herüber.
»Was mir gefällt!« gab Pe Ell zurück, und seine Stimme klang zu seiner eigenen Überraschung erschöpft. »Hau ab, Hochländer. Ich habe nicht die Absicht, dir etwas anzutun. Ich habe bekommen, was ich haben wollte. Dein einarmiger Freund hat mir den Elfenstein gegeben – hier in dem Beutel an meinem Gürtel! Ich habe die Absicht, ihn zu behalten! Wenn du willst, daß das Mädchen ungeschoren bleibt, dann mach, daß du wegkommst!«
Aber Morgan Leah rührte sich nicht. Er stand da, erschöpft und ausgemergelt, kaum mehr als ein Kind, und wirkte gleichzeitig verloren und unentschlossen. Aber er weigerte sich aufzugeben. »Laß sie los, Pe Ell. Tu ihr nichts an.«
Seine Bitte war verschwendet, doch Pe Ell brachte ein müdes Nicken zustande. »Hau ab, Hochländer. Quickening bleibt bei mir.«
Morgen Leah schien zunächst zu zögern, dann kam er näher. Zum ersten Mal, seit Pe Ell Quickening festhielt, fühlte er, wie sie sich versteifte. Sie machte sich Sorgen um den Hochländer, erkannte er. Ihre Sorge stimmte ihn wütend. Er riß sie zurück, hielt ihr wieder den Stiehl an die Kehle und rief dem jungen Mann zu, er solle stehenbleiben.
Und da tauchte plötzlich auch Walker Boh aus dem Schatten auf, gleich neben Morgan Leah. Er trat ohne Hast hinzu, packte den Hochländer am Arm und zog ihn zurück. Morgan wehrte sich, aber selbst mit nur einem Arm war der andere stärker.
»Überleg dir gut, was du tust, Pe Ell!« rief Walker Boh, und seine Stimme klang jetzt wütend.
Wie hatte der große Mann ihn so schnell einholen können? Pe Ell überfiel ein gewisses Unbehagen, das Gefühl, daß alles aus unerfindlichen Gründen irgendwie schiefging. Er mußte diesen Wahnsinn inzwischen längst hinter sich haben und in Sicherheit sein. Er mußte Zeit haben, seinen Sieg auszukosten, mit dem Mädchen zu sprechen, ehe er den Stiehl ansetzte, sehen, wieviel er von ihrer Magie erfahren konnte. Statt dessen wurde er gnadenlos von jenen Männern belästigt, die er zu verschonen beschlossen hatte. Schlimmer noch, er schwebte in Gefahr, selbst in eine Falle zu geraten.
»Bleibt mir vom Leib!« brüllte er. Er begann, seine Selbstkontrolle zu verlieren, und seine Wut ging mit ihm durch. »Ihr setzt das Leben des Mädchens aufs Spiel, wenn ihr mich weiterhin verfolgt! Laßt mich gehen, oder sie muß sterben!«
»Laß sie los!« rief der verzweifelte Hochländer wieder. Er hatte sich auf die Knie fallen lassen. Der Einarmige hielt seinen Arm noch immer fest.
Hinter Pe Ell, noch immer zu weit weg, als daß es einen Unterschied gemacht hätte, näherte sich Horner Dees. Der Mörder war jetzt von seinen Feinden umzingelt. Zum ersten Mal in seinem Leben saß er in der Klemme, und er fühlte, wie ein Anflug von Panik sich ausbreitete. Er riß Quickening herum, um dem stämmigen Fährtensucher entgegenzutreten. »Geh mir aus dem Weg, Alter!« bellte er.
Aber Horner Dees schüttelte nur den Kopf. »Ich denke nicht daran, Pe Ell. Ich bin oft genug vor dir zurückgewichen. Auch ich habe in dieser Sache etwas zu verlieren. Ich habe mindestens ebensoviel aufs Spiel gesetzt wie du. Außerdem hast du nichts geleistet, um zu verdienen, was du verlangst. Du versuchst es einfach nur zu stehlen. Wir wissen, wer und was du bist, allesamt. Tu, was Morgan Leah dir sagt. Laß das Mädchen frei.«
Walker Boh hob seine Stimme. »Pe Ell, wenn die Schattenwesen dich beauftragt haben, den schwarzen Elfenstein zu stehlen, dann nimm ihn und verschwinde. Wir werden dich nicht hindern.«
»Die Schattenwesen!« spottete Pe Ell und mühte sich, seine Wut im Zaum zu halten. »Die Schattenwesen bedeuten mir gar nichts. Ich tue für sie, was mir paßt, und mehr nicht. Meinst du, ich sei ihretwegen den ganzen Weg hierhergekommen? Da irrst du dich gewaltig!«
»Dann behalte den Elfenstein für dich selbst, wenn es sein muß.«
Jetzt ging die Wut mit ihm durch. Seine Vorsicht tauchte in einem roten Nebel unter. »Wenn es sein muß! Natürlich muß es sein! Aber der Elfenstein ist nicht der eigentliche Grund, warum ich hergekommen bin!«
»Was ist es dann, Pe Ell?« fragte Walker scharf.
»Sie ist es!« Pe Ell riß Quickening wieder herum und hob ihr hübsches Gesicht über die Spitze seiner Klinge. »Schau sie an, Walker Boh, und erzähl mir, daß du sie nicht begehrst! Kannst du nicht, oder? Deine Gefühle, meine, die des Hochländers – sie sind alle gleich! Ihretwegen haben wir diese Reise gemacht, wegen der Art, wie sie uns anschaut, und wegen der Gefühle, die sie in uns weckt, wegen der Art, wie sie uns mit ihrer Magie umgarnt hat! Denk an die Geheimnisse, die sie hütet! Ich habe diese Reise getan, um herauszufinden, was sie ist, um sie zu besitzen. Sie ist von Anfang an für mich bestimmt, und wenn ich hier fertig bin, wird sie mir auf immer gehören! Ja, die Schattenwesen haben mich geschickt, aber es war meine Entscheidung, herzukommen – meine eigene Entscheidung, nachdem ich sah, was sie mir geben kann! Begreifst du’s nicht? Ich bin nur nach Eldwist gekommen, um sie zu töten!«
Es wurde augenblicklich still. Das Beben und Donnern ebbte zu einem fernen, undeutlichen Stöhnen ab, und die Worte des Mörders standen klar und deutlich in der Luft. Der Stein der Stadt fing sie auf und ließ ihr Echo zwischen den Mauern spielen – ein endlos langer Widerhall des Grauens.
»Ich muß herausfinden, was sie ist«, wisperte Pe Ell in dem jetzt überflüssigen Versuch, etwas zu erklären, doch unfähig, irgend etwas anderes zu tun, verwundert, daß er so töricht gewesen war, so viel preiszugeben, wissend, daß sie ihn jetzt nie mehr entkommen lassen würden. Hatte er tatsächlich die Kontrolle so sehr verloren? »Ich muß sie töten«, wiederholte er rauh und verbiestert. »So funktioniert die Magie. Sie enthüllt alle Wahrheiten. Indem sie Leben nimmt, gibt sie Leben. Mir. Sobald der Mord vollzogen ist, wird Quickening mein sein. Für immer.«