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Dann streckte sie die Hand aus, und ihre kühlen Finger legten sich auf seine Wange. Bilder durchfluteten ihn, ihre Gedanken, ihre Erinnerungen und ihr Wissen. Im Zeitraum eines Augenblicks gab sie sich selbst vollständig preis, ließ ihn all die Geheimnisse, die sie so sorgfältig gehütet hatte, sehen, die Wahrheit, wer und was sie war. Er schrie auf, als habe er sich verbrannt, tief getroffen von dem, was er sah. Er drückte sie fest an sich und verbarg sein bleiches Gesicht verzweifelt in ihrem Haar.

Sowohl Morgan als auch Horner Dees kamen herbeigerannt, doch Walker rief ihnen zu, sie sollten dort bleiben, wo sie waren. Sie blieben zögernd und unsicher stehen. Walker war noch immer halb abgewandt und hielt Quickening an sich gedrückt. Sein Gesicht war eine Maske eiserner Konzentration. Er verstand es jetzt. Er verstand alles.

»Walker.« Sie sagte wieder seinen Namen. Ihre Hand strich ein letztes Mal über sein Gesicht, und ein einziges Bild wurde sichtbar.

Es war die zweite Vision des Finsterweihers.

Sie hob die Lider. »Laß mich fallen«, sagte sie leise.

Er sah die Vision ganz deutlich, sich selbst oben auf den Klippen, die Vier Länder, die sich hinter ihm erstreckten, und Quickening an seiner Seite, ihre schwarzen Augen, die ihn flehentlich anschauten, als er sie fortstieß.

Hier. Jetzt. Die Vision wurde Wirklichkeit.

Er begann den Kopf zu schütteln, doch ihr Blick ließ ihn innehalten. Sie schaute ihn mit solcher Intensität an, daß es wie eine Drohung war.

»Adieu, Walker«, flüsterte sie.

Er ließ sie los. Für einen kleinen Moment hielt er sie noch im Ring seiner Arme, dann stieß er sie in den Abgrund. Es war fast, als sei jemand anderer verantwortlich, jemand, der in ihm versteckt war, ein Wesen, dem mit Vernunft nicht beizukommen war. Er hörte Horner Dees entsetzt aufstöhnen. Er hörte Morgan fassungslos schreien. Sie stürzten sich auf ihn und packten ihn grob, während Quickening in die Tiefe stürzte. Sie schauten ihr nach, ein winziges Bündel aus Kleidern und Silberhaar, das hinter ihr herwehte. Sie sahen sie leuchten.

Da begann sie unglaublicherweise sich aufzulösen. Es fing an den Rändern an, wie ausfransender Stoff, kleine Fetzen flatterten davon. Die drei standen stumm und ergriffen am Rande des Abgrunds und schauten ihr nach. In wenigen Sekunden war sie nicht mehr, ihr Körper zu Staub zerfallen, der glitzerte und leuchtete, als er vom Wind erfaßt wurde.

Tiefer unten blieb der Malmschlund stehen und hob den Kopf. Vielleicht wußte er, was geschehen würde, vielleicht verstand er es sogar. Er versuchte nicht zu fliehen, sondern wartete geduldig, bis der Staub, der einst Quickening gewesen war, sich auf ihn legte. Dann durchfuhr ihn ein Schauder, er schrie einmal auf, und dann begann er zu schrumpfen. Es ging sehr schnell, sein Leib wurde welk und runzlig und schrumpfte, bis nichts mehr übrig war.

Dann verteilte sich der Staub über die Landenge; der Felsen verwandelte sich, Moos und Gras übergrünten ihn. Sprößlinge schossen empor, grün und voll strotzenden Lebens. Der Staub schwebte weiter, erreichte die Halbinsel und Eldwist, und die Verwandlung setzte sich fort. Jahrhunderte von Uhl Belks finsterer Unterdrückung wurden in wenigen Augenblicken aufgehoben. Der Stein der Stadt zerbarst – Mauern, Türme, Straßen und Tunnel stürzten zusammen. Alles fügte sich der Macht von Quickenings Magie, so wie es die Meadegärten von Culhaven getan hatten. Alles, was gewesen war, ehe der Steinkönig die Veränderung erzwungen hatte, erwachte wieder zu Leben. Felsen verschoben sich und nahmen eine andere Gestalt an. Bäume schossen empor, die knorrigen Äste dicht besetzt mit Sommerlaub, das vor dem Grau vom Himmel und Wasser leuchtete. Flecken mit Wildblumen blühten auf, nicht so üppig wie in Culhaven, denn dies hier war immer ein rauher Ort gewesen, doch in vereinzelten Büscheln, saftig und voller Leben. Seegras und Gestrüpp wucherte zwischen den Felsen und gab dem Land seinen Küstencharakter zurück. Auch die Luft belebte sich wieder, füllte sich mit den Düften lebender Natur. Der steinerne, tote Panzer des Landes rückte in ferne Erinnerung. Langsam und knirschend versank Eldwist, wurde von der Erde verschlungen und verschwand wieder in die Vergangenheit, aus der es geboren war.

Als die Verwandlung vollständig war, blieb von Eldwist nur noch die Kuppel, unter der der Steinkönig sich vergraben hatte – eine einsame graue Insel inmitten eines grünen Landes.

»Wir hätten absolut nichts tun können, um sie zu retten, Morgan«, erklärte Walker Boh leise und beugte sich nah zu dem niedergeschmetterten Hochländer, um sicher zu sein, daß er ihn hören konnte. »Quickening kam nach Eldwist, um zu sterben.«

Sie kauerten zusammen am Rande der Klippen, Horner Dees neben ihnen, sprachen mit gedämpfter Stimme, als wäre die Stille, die sich nach Quickenings Verwandlung über das Land gelegt hatte, aus Glas, das zerbrechen könnte. Weit in der Ferne waren hin und wieder schwach die Brecher des Gezeitenstroms und vereinzelte Schreie der Seevögel zu hören. Die Magie war inzwischen die Klippen heraufgekommen und an ihnen vorbei weiter vorgedrungen, reinigte das Gestein von dem Gift des Malmschlunds und gab dem Land neues Leben. Eine leichte Brise zupfte an den Wolken, zerbrach die Wolkendecke hier und da, und die Sonne lugte vorsichtig hindurch.

Morgan nickte wortlos. Er hielt den Kopf gesenkt, sein Gesicht war angespannt.

Walker schaute Horner Dees an, der aufmunternd nickte. »Sie hat es mich alles sehen lassen, Hochländer, kurz bevor sie starb. Sie wollte, daß ich es weiß, damit ich es dir sagen kann. Sie berührte mein Gesicht, als wir über dem Abgrund standen und auf Eldwist schauten, und alles wurde mir kundgetan. All die Geheimnisse, die sie vor uns hütete. Alle ihre sorgfältig bewahrten Rätsel.«

Er rückte noch ein Stück näher. »Ihr Vater erschuf sie, um Uhl Belks Magie entgegenzuwirken. Er machte sie aus den Elementen der Gärten, in denen er lebt, aus seinen stärksten Zaubern. Er schickte sie nach Eldwist zum Sterben. In gewissen Sinne schickte er einen Teil seiner selbst. Er hatte tatsächlich keine andere Wahl. Nichts Geringeres wäre stark genug gewesen, um den Steinkönig in seinem eigenen Herrschaftsbereich zu überwinden. Und Uhl Belk mußte besiegt werden, denn er würde Eldwist niemals verlassen – konnte es, genauer gesagt, nicht verlassen, auch wenn er das nicht wußte. Er war längst ein Gefangener seiner eigenen Magie. Der Malmschlund war zu Uhl Belks Botschafter geworden, ausgesandt, den Rest der Vier Länder in Stein zu verwandeln. Aber wenn der König vom Silberfluß abgewartet hätte, bis das Monster nahe genug herangekommen wäre, dann wäre es schon viel zu groß gewesen, um noch aufgehalten zu werden.«

Er legte Morgan die Hand auf die Schulter und fühlte, wie der junge Mann zusammenzuckte. »Sie hat jeden von uns mit einer bestimmten Absicht ausgewählt, Hochländer – genau wie sie gesagt hat. Du und ich waren auserkoren, den schwarzen Elfenstein zurückzugewinnen, den Belk aus der Halle der Könige gestohlen hatte. Das Problem, dem Quickening gegenüberstand, war natürlich, daß ihre Magie nicht wirken konnte, solange Uhl Belk die Kontrolle über den Elfenstein hatte. Solange er die Druidenmagie einsetzen konnte, konnte er ihre Magie aufsaugen und die notwendige Transformation verhindern. Wenn er erkannt hätte, wer sie war, hätte er es auf der Stelle getan. Er hätte sie zu Stein verwandelt. Aus diesem Grund durfte sie ihre Magie bis zum letzten Moment nicht benutzen.«

»Sie hat aber doch die Meadegärten durch eine simple Berührung des Bodens verwandelt!« protestierte Morgan verärgert und trotzig.

»Die Meadegärten, ja. Aber Eldwist war bei weitem zu monströs, um so einfach umgewandelt zu werden. Durch eine simple Berührung hätte sie es nicht tun können. Sie mußte sich selbst in den Fels einfließen lassen, sich zu einem Teil des Landes machen.« Walker seufzte. »Und deshalb wählte sie Pe Ell. Der König vom Silberfluß muß gewußt oder wenigstens geahnt haben, daß die Schattenwesen jemanden aussenden würden, Quickening an dem Vorhaben zu hindern. Es war kein Geheimnis, wer sie war oder wie sie Dinge verwandeln konnte. Sie stellte eine sehr reale Bedrohung dar. Sie mußte beseitigt werden. Ein Schattenwesen, so sieht es jetzt aus, hatte die nötigen Mittel dazu nicht. Also wurde statt dessen Pe Ell geschickt. Pe Ell glaubte, seine Absicht sei ein Geheimnis; er glaubte, daß Quickening zu ermorden seine eigene Idee gewesen sei. Das war es nicht. In keinem Moment. Es war die ihre, von Anfang an. Deswegen wählte sie ihn aus, denn ihr Vater hatte ihr aufgetragen, es zu tun, den Mann und die Waffe mit nach Eldwist zu nehmen, die imstande waren, den Schutz ihrer Magie zu durchbrechen und es ihr zu ermöglichen, sich zu transformieren.«