Die Verzweiflung fraß ihn auf. Er hatte das Mädchen getötet, wie er vorgehabt hatte; er hatte den schwarzen Elfenstein in seinem Besitz. Alles war genauso gekommen, wie es geplant gewesen war. Mit Ausnahme der Tatsache, daß es nie sein Plan gewesen war – sondern von Anfang an der ihre. Das war es, was er in ihren Augen gesehen hatte, die Wahrheit, weshalb er hier war und wozu er bestimmt worden war. Sie hatte ihn nicht nach Eldwist gebracht, damit er dem Steinkönig entgegentreten und den schwarzen Elfenstein erobern sollte; sie hatte ihn mitgenommen, damit er sie tötete.
Himmel noch mal, damit er sie tötete! Blindlings rannte er, stolperte, raffte sich wieder auf, zerrissen von der Erkenntnis, wie sie ihn benutzt hatte.
Er hatte nie die Kontrolle gehabt. Er hatte sich nur eingebildet, sie zu haben. Alle seine Mühen waren verschwendet. Sie hatte ihn vom ersten Moment an manipuliert – als sie ihn in Culhaven auswählte und ganz genau wußte, wer und was er war, als sie ihn überredete, mitzukommen und ihn dabei in dem Glauben ließ, er komme aus eigenem Willen, und indem sie ihn sorgfältig von den anderen fernhielt, ihn hierhin und dorthin schickte, wie ihre Absichten es verlangten. Sie hatte ihn benutzt! Warum? Warum hatte sie das getan? Die Frage brannte wie Feuer? Warum hatte sie sterben wollen?
Das Feuer wurde zu eisiger Kälte, als er sah, daß ihm ihre Augen von rechts und links und überallher zuzwinkerten. War es am Ende überhaupt seine Entscheidung gewesen, sie zu erstechen? Er konnte sich nicht erinnern, bewußt die Entscheidung getroffen zu haben. Es war beinahe so, als habe sie sich selbst in die Klinge gestürzt – oder seine Hand dazu gebracht, sich diese wenigen, nötigen Zentimeter weit zu bewegen. Pe Ell war die ganze Zeit die Marionette der Tochter des Königs vom Silberfluß gewesen; vielleicht hatte sie auch an den Fäden gezogen, die ihn ein letztes Mal hatten handeln lassen – und dann öffnete sie ihm ihre Augen, so daß ihm alle ihre Geheimnisse offenbart wurden.
Er taumelte zu Boden, als er das obere Ende des Klippenpfads erreichte, warf sich nach links in eine Nische zwischen den Felsen, kauerte sich zusammen und begrub sein hageres, verstörtes Gesicht in den Armen. Er wünschte, er könnte sich verstecken, könnte verschwinden. Wutentbrannt knirschte er mit den Zähnen. Er hoffte, sie sei tot! Er hoffte, sie wären alle tot! Tränen rannen ihm übers Gesicht, Zorn und Verzweiflung wüteten in ihm, kehrten sein Inneres nach außen. Niemand hatte ihm das je angetan. Er konnte nicht ertragen, was er empfand! Er konnte es nicht dulden!
Nach kurzer Zeit, vielleicht auch etwas länger, schaute er wieder auf, weil ihm plötzlich bewußt wurde, daß er in Gefahr schwebte. Die anderen würden ihn verfolgen. Sollen sie doch kommen, dachte er wild. Aber nein, er war noch nicht bereit, ihnen entgegenzutreten. Er konnte kaum klar denken. Er brauchte Zeit, um sich wieder zu fangen.
Er zwang sich wieder auf die Füße. Alles, was ihm zu tun in den Sinn kam, war rennen und immer wieder rennen.
Er erreichte den Hohlweg, der von den Klippen und dem Blick auf die verhaßte Stadt wegführte. Er konnte fühlen, wie die Erde erschüttert wurde, und er hörte das Rumpeln des Malmschlunds. Regen prasselte auf ihn nieder, und grauer Nebel senkte sich über ihn, bis man meinte, die Wolken lagerten direkt auf dem Land. Pe Ell drückte den Lederbeutel mit den Runenzeichen und seinem kostbaren Inhalt fest an seine Brust. Der Stiehl ruhte wieder in der Scheide an seiner Hüfte. Er fühlte die Magie bis in seine Hände brennen, an seinem Körper, heißer, als er sie je gefühlt hatte, ein Feuer, das vielleicht nie mehr gelöscht werden konnte. Was hatte ihm das Mädchen angetan? Was hatte sie getan?
Er stürzte und konnte eine Weile lang nicht wieder aufstehen. Alle Kraft hatte ihn verlassen. Er schaute auf seine Hände, sah das Blut, das an ihnen klebte. Ihr Blut.
Ihr Gesicht blitzte vor ihm aus dem grauen Dunst auf, leuchtend und sprühend, ihr Silberhaar zurückgeworfen, ihre schwarzen Augen …
Quickening! Es gelang ihm mit Mühe, wieder auf die Füße zu kommen, und dann rannte er weiter, rutschte und stolperte und kämpfte gegen die Visionen an, versuchte, seine Fassung zurückzugewinnen, seine Selbstkontrolle. Aber nichts wollte an seinen Platz rücken, alles torkelte kunterbunt durcheinander, und Wahnsinn raste in ihm wie ein freigelassener Wachhund. Er hatte sie getötet, ja. Aber sie hatte ihn dazu veranlaßt, es zu tun! Alle die Gefühle für sie waren von Anfang an falsch gewesen, nichts als ihr Werk, sie hatte ihn verdreht!
Vor ihm öffnete sich die Knochensenke, leer und steinig. Er wurde nicht langsamer. Er rannte weiter.
Irgend etwas geschah hinter ihm. Er konnte eine Veränderung der Erschütterungen wahrnehmen, ein Drehen des Windes. Er konnte fühlen, wie sich etwas Kaltes tief in seinem Inneren ausbreitete. Magie! Eine Stimme flüsterte bohrend, heimtückisch. Quickening kommt dich holen! Aber Quickening war doch tot! Er schrie laut auf, verfolgt von Dämonen, die alle ihr Gesicht trugen.
Er stolperte und fiel mitten in einen Haufen bleicher Knochen, raffte sich wieder auf die Knie und erkannte plötzlich, wo er sich befand.
Die Zeit blieb für Pe Ell stehen, und ein furchteinflößender Augenblick der Erkenntnis erblühte in ihm.
Der Koden! Und dann hatte er ihn. Seine zottigen Glieder umfingen ihn, sein Körper roch nach Alter und Verwesung. Er konnte das Pfeifen seines Atems an seinem Ohr hören, konnte die Hitze seines Gesichts spüren. Die Nähe des Monsters war erstickend. Er strampelte, um es zu sehen, und stellte fest, daß er unfähig dazu war. Es war da und gleichzeitig nicht da. War es irgendwie unsichtbar geworden? Er versuchte, den Griff des Stiehls zu fassen, aber seine Finger wollten nicht reagieren.
Wie war das möglich?
Plötzlich wußte er, daß es kein Entkommen mehr gab. Und er war nur gelinde überrascht festzustellen, daß es ihm ziemlich egal war.
Im nächsten Augenblick war er tot.
32
Weniger als eine Stunde später gelangten die letzten drei Überlebenden der Gruppe aus Rampling Steep zur Knochensenke und fanden Pe Ells Leiche. Er lag auf halbem Wege, ausgespreizt und ungeschützt auf der Erde, den leblosen Blick in den Himmel gerichtet. Eine Hand umklammerte den Lederbeutel mit den blauen Runen, der den schwarzen Elfenstein enthielt. Der Stiehl steckte noch in der Scheide.
Walker Boh schaute sich neugierig um. Quickenings Magie hatte sich über die Knochensenke hinaus ausgebreitet und so verwandelt, daß sie nicht mehr wiederzuerkennen war. Sägegras und Springkraut wucherte in Büscheln überall und polsterte die harte Oberfläche des Gesteins. Gelbe und purpurne Wildblumen neigten sich der Sonne entgegen, und die Knochen der Toten waren im Erdboden verschwunden. Alles, was übriggeblieben war, war Pe Ell.
»Nicht die geringste Wunde«, murmelte Horner Dees. Sein zerklüftetes Gesicht war noch runzliger, und seine Stimme war voller Staunen. Er trat näher, beugte sich hinunter, um genauer hinzuschauen, und richtete sich wieder auf. »Vielleicht der Hals gebrochen. Rippen eingedrückt. Irgend so was. Aber nichts, was ich so sehen könnte. Etwas Blut an seinen Händen, aber das stammt von dem Mädchen. Und schaut doch mal. Spuren vom Koden überall. Er muß ihn erwischt haben. Aber an seiner Leiche sind keine Zeichen. Wie gefällt euch das?«
Nirgendwo war ein Hinweis darauf, daß der Koden noch da war. Er war fort, verschwunden, als habe es ihn nie gegeben. Walker prüfte die Luft, testete die Stille, schloß die Augen, um zu prüfen, ob er den Koden in seinem Bewußtsein finden könnte. Nein. Quickenings Magie hatte ihn befreit. Sobald die Ketten, die ihn fesselten, zerbrochen waren, war er in seine eigene Welt zurückgekehrt, wieder er selbst, nichts als ein Bär. Und die Erinnerungen an das, was ihm angetan worden war, verblaßten schon. Walker fühlte, wie sich tiefe Befriedigung in ihm ausbreitete. Am Ende hatte er sein Versprechen halten können.