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Als er fast den hohen Turm erreicht hatte, wo Felsen-Dall wartete, tötete er einen von denen, die Wache hielten, ein Schattenwesen, aber das spielte keine Rolle. Er tat es, weil er dazu in der Lage war und weil er Lust dazu hatte. Er verschmolz mit der schwarzen Steinmauer und wartete, bis das Geschöpf an ihm vorbeikam, angelockt von einem kleinen Geräusch, das er verursacht hatte. Dann zog er den Stiehl aus der Scheide unter seiner Hose und schnitt seinem Opfer geräuschlos den Lebensfaden ab. Der Wachmann starb in seinen Armen, sein Schatten stieg wie schwarzer Rauch vor ihm auf, während der Leib zu Asche zerfiel. Pe Ell schaute zu, wie die erstaunten Augen brachen. Er ließ die leere Uniform liegen, damit man sie finden würde.

Er lächelte, während er durch die Schatten glitt. Er tötete schon seit langer Zeit, und er beherrschte es sehr gut. Er hatte diese Begabung sehr früh in seinem Leben erkannt, seine Fähigkeit, selbst das wachsamste Opfer aufzufinden und zu zerstören, sein Gefühl, wie ihr Schutz niedergebrochen werden konnte. Der Tod machte den meisten Leuten angst, doch nicht Pe Ell. Pe Ell wurde von ihm angezogen. Der Tod war der Zwillingsbruder des Lebens und der interessantere von den beiden. Er war geheimnisvoll, unbekannt, mysteriös. Er war unvermeidlich und für immer, wenn er kam. Er war eine dunkle Festung mit unendlich vielen Kammern, die darauf warteten, erforscht zu werden. Die meisten Leute betraten sie nur einmal, und das auch nur, weil sie keine andere Wahl hatten. Pe Ell wollte bei jeder Gelegenheit eintreten können, und die Möglichkeit, dies zu tun, gaben ihm die, die er tötete. Jedesmal, wenn er jemanden sterben sah, entdeckte er ein neues Gemach, sah er einen anderen Teil des Geheimnisses. Er wurde wiedergeboren.

Hoch oben im Turm traf er auf zwei Wächter, die vor einer verschlossenen Tür postiert waren. Sie bemerkten ihn nicht, als er sich näherte. Pe Ell lauschte. Er konnte nichts hören, doch er konnte spüren, daß jemand in dem Raum hinter der Tür gefangengehalten wurde. Er überlegte einen Augenblick, ob er herausfinden sollte, wer es war. Aber das hieße, daß er danach fragen mußte, was er niemals tun würde, oder die Wachen töten mußte, wozu er keine Lust hatte. Er ging weiter.

Pe Ell stieg die verdunkelten Treppen hinauf in die Spitze der Südwache und betrat einen Saal mit unregelmäßigen Kammern, die wie Gänge in einem Labyrinth miteinander verbunden waren. Es gab keine Türen, nur Türöffnungen. Es gab keine Wachen. Pe Ell schlüpfte hinein, ein geräuschloser Teil der Nacht. Draußen war es inzwischen dunkel, vollständig schwarz, weil Wolken den Himmel zudeckten und die Welt darunter undurchdringlich machten. Pe Ell durchquerte mehrere der Kammern, lauschte und wartete.

Dann blieb er unvermittelt stehen, richtete sich auf und wandte sich um.

Felsen-Dall trat aus der Finsternis, von der er ein Teil war. Pe Ell lächelte. Felsen-Dall konnte sich ebenfalls gut unsichtbar machen.

»Wie viele hast du umgebracht?« fragte der Erste Sucher mit seiner wispernden, leisen Stimme.

»Einen«, erwiderte Pe Ell. Ein Lächeln zuckte in seinen Mundwinkeln. »Vielleicht werde ich noch einen töten, wenn ich hinausgehe.«

Dalls Augen schimmerten in einem eigentümlichen Rot. »Eines Tages wirst du dieses Spiel einmal zu oft gespielt haben. Eines Tages wirst du aus Versehen dem Tod in die Quere kommen, und er wird dich schnappen statt deines Opfers.«

Pe Ell zuckte mit den Achseln. Sein eigener Tod bekümmerte ihn nicht. Er wußte, daß er kommen würde. Wenn es soweit war, würde ihm sein Gesicht vertraut sein, eins, das er sein Leben lang gekannt hatte. Für die meisten gab es die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. Nicht für Pe Ell. Die Vergangenheit war nichts als Erinnerungen, und Erinnerungen waren abgestandene Mahnungen an das, was verloren war. Die Zukunft war ein vages Versprechen – Träume und Rauchwölkchen. Mit beiden konnte er nichts anfangen. Nur die Gegenwart zählte, denn die Gegenwart war das Hier und Jetzt dessen, was man war, die Ereignisse des Lebens, die Unmittelbarkeit des Todes, und man konnte sie kontrollieren, wie es weder für die Vergangenheit noch für die Zukunft möglich war. Pe Ell glaubte an Kontrolle. Die Gegenwart war eine sich stetig weiterentwickelnde Kette von Augenblicken, die das Leben und Sterben schmiedeten, und man war immer da, um sie kommen zu sehen.

Ein Fenster öffnete sich in die Nacht jenseits eines Tisches mit zwei Stühlen, und Pe Ell ließ sich auf dem einen nieder. Felsen-Dall gesellte sich dazu. Eine Weile saßen sie schweigend da, und jeder schaute den anderen an, doch sah noch etwas mehr. Sie kannten sich schon seit über zwanzig Jahren. Ihre Begegnung war ein Zufall gewesen. Felsen-Dall war damals Jungmitglied eines Polizeikomitees des Koalitionsrates und schon zutiefst verstrickt in die Gift verspritzende Politik der Föderation. Er war grausam und ehrgeizig und, kaum aus den Kinderschuhen herausgewachsen, schon jemand zum Fürchten. Er war natürlich ein Schattenwesen, aber nur wenige wußten das. Pe Ell, beinahe gleich alt, war ein Mörder, der damals schon über zwanzig Morde auf dem Gewissen hatte. Sie waren sich in den Schlafquartieren eines Mannes begegnet, den Felsen-Dall zu beseitigen gekommen war, ein Mann, nach dessen Position in der Südlandregierung er trachtete und dessen Einmischungen er lange genug geduldet hatte. Pe Ell war als erster dort angelangt, geschickt von einem anderen der vielen Feinde dieses Mannes. Sie hatten sich über der Leiche des Mannes schweigend gegenübergestanden, und die Nachtschatten hüllten sie beide in die gleiche Düsterkeit, die ihr Leben widerspiegelte, und sie hatten eine Verwandtschaft gefühlt. Beide verfügten über Magie. Keiner war, was er zu sein schien. Beide waren rücksichtslos unmoralisch. Keiner hatte Angst vor dem anderen. Draußen summte und klirrte und fauchte die Südlandstadt Wayfort unter den Intrigen von Männern, deren Ehrgeiz größer war als ihr eigener, doch deren Fähigkeiten weit geringer waren. Sie schauten einander in die Augen und erkannten ihre Möglichkeiten.

Sie gründeten eine unwiderrufliche Partnerschaft. Pe Ell war die Waffe, Felsen-Dall die Hand, die sich ihrer bediente. Jeder diente dem anderen zu seinem eigenen Genuß; es gab keine Beschränkung und kein Band. Jeder nahm, was er brauchte, und gab, was gefordert war – doch keiner identifizierte sich mit dem anderen oder verstand, was der andere davon hatte. Felsen-Dall war der Schattenwesenführer, dessen Pläne ein unangetastetes Geheimnis waren. Pe Ell war der Mörder, dessen Tätigkeit seine absonderliche Leidenschaft blieb. Pe Ell nahm die Einladung an, wenn die Aufgabe spannend genug war. Sie labten sich genüßlich am Tod anderer.

»Wer ist das, den du da unten gefangenhältst?« fragte Pe Ell plötzlich und brach damit das Schweigen, beendete den Sturm der Erinnerungen.

Felsen-Dall neigte den Kopf ein wenig, eine knochige Maske, die sein Gesicht wie einen fleischlosen Schädel aussehen ließ. »Einen Südländer, einen Talbewohner. Einen von zwei Brüdern mit dem Namen Ohmsford. Der andere Bruder glaubt, daß ich diesen hier umgebracht habe. Ich habe dafür gesorgt, daß er das glaubt. Ich hatte es so geplant.« Der große Mann schien mit sich selbst zufrieden zu sein. »Wenn es Zeit dafür ist, werde ich dafür sorgen, daß die beiden sich wiederfinden.«

»Dein eigenes Spiel, wie mir scheint.«

»Ein Spiel mit sehr hohem Einsatz, einem Einsatz, der Magie von unvorstellbaren Ausmaßen mit einschließt – Magie, die größer ist als deine oder meine oder die von irgendwem sonst. Grenzenlose Kraft.«

Pe Ell antwortete nicht. Er fühlte das Gewicht des Stiehls an seinem Schenkel, die Wärme seiner Magie. Es fiel ihm schwer, sich eine stärkere Magie vorzustellen – unmöglich, sich eine nützlichere auszumalen. Der Stiehl war die perfekte Waffe, eine Klinge, die alles durchtrennen konnte. Nichts hielt ihm stand. Eisen, Stein, die undurchdringlichste aller Verteidigungen – alles war nutzlos dagegen. Niemand war davor sicher. Sogar die Schattenwesen waren anfechtbar, sogar sie konnten damit zerstört werden. Das hatte er vor Jahren herausgefunden, als einer von ihnen wie eine schleichende Katze in sein Schlafzimmer gekommen war und versucht hatte, ihn umzubringen. Er hatte geglaubt, ihn schlafend zu finden, doch Pe Ell war immer wach. Er hatte das schwarze Ding ohne Schwierigkeiten getötet.