»Möglich.«
Pe Ell war blitzschnell aufgesprungen, hatte den Stiehl aus der Scheide gezogen und hielt die Spitze der Klinge knapp vor Felsen-Dalls Nase. Pe Ells Lächeln war furchteinflößend. »Wirklich?«
Felsen-Dall zuckte nicht, er zuckte nicht einmal mit der Wimper. »Tu, was ich dir sage, Pe Ell. Geh nach Culhaven. Such das Mädchen und finde heraus, was sie vorhat. Dann bring sie um.«
Pe Ell fragte sich, ob er Felsen-Dall umbringen sollte. Er hatte schon früher daran gedacht. Es ziemlich ernsthaft in Betracht gezogen. In letzter Zeit erschien ihm dieser Gedanke einigermaßen faszinierend. Er empfand keinerlei Loyalität zu dem Mann. Er war ihm so oder so nicht wichtig, abgesehen von den Gelegenheiten, die er ihm bot, und selbst die befriedigten ihn längst nicht mehr so wie früher. Er war der ständigen Versuche des anderen, ihn zu manipulieren, müde. Ihm behagte ihr Abkommen nicht mehr. Warum dem nicht ein Ende setzen?
Der Stiehl schwankte. Die Sache war natürlich, daß es keinen wirklichen Grund dafür gab. Felsen-Dall zu töten brachte überhaupt nichts, es sei denn, er war erpicht darauf, die Geheimnisse zu entdecken, die sich ihm im Augenblick des Todes des Ersten Suchers enthüllten. Das könnte sich als interessant erweisen. Andererseits brauchte man nichts zu übereilen. Es war besser, die Vorfreude darauf noch ein Weilchen auszukosten. Abwarten war besser.
Er steckte den Stiehl blitzschnell wieder in die Scheide und wich zurück. Für einen kurzen Moment hatte er das Gefühl, er habe eine Gelegenheit verpaßt, aber das war töricht. Felsen-Dall konnte ihn nicht abhalten. Das Leben des Ersten Suchers gehörte ihm, wann immer er es sich holen wollte.
Er schaute Felsen-Dall eine Weile an, dann spreizte er die Hände. »Ich werde es tun.«
Er drehte sich um und schickte sich an zu gehen. Felsen-Dall rief hinter ihm her: »Laß dich warnen, Pe Ell. Dieses Mädchen ist dir mehr als ebenbürtig. Treib keine Spielchen mit ihr. Sobald du ihre Absichten kennst, bring sie schleunigst um.«
Pe Ell antwortete nicht. Er schlüpfte aus dem Zimmer und verschmolz wieder mit den Schatten der Festung, desinteressiert an allem, was Felsen-Dall denken oder wünschen mochte. Es reichte, daß er sich einverstanden erklärt hatte, zu tun, worum das Schattenwesen ihn gebeten hatte. Wie er es ausführte, ging nur ihn selbst etwas an.
Er verließ die Südwache, um nach Culhaven zu gehen. Er tötete keine der Wachen auf dem Weg. Er fand, es sei der Mühe nicht wert.
Mitternacht rückte näher. Er war des Denkens müde und schlummerte in seinem Stuhl, während die Stunden verstrichen. Es war nicht lange vor Tagesanbruch, als das Mädchen erwachte. In der Kate war es still, die Zwergenfamilie schlief. Die Lagerfeuer draußen waren niedergebrannt, und das letzte Gesprächsgeflüster war verstummt. Pe Ell wachte sofort auf, als das Mädchen sich regte. Sie schlug die Augen auf und fixierte ihn. Lange Zeit starrte sie ihn an, ohne etwas zu sagen, dann setzte sie sich langsam auf.
»Ich heiße Quickening«, sagte sie.
»Ich bin Pe Ell«, erwiderte er.
Sie faßte nach seiner Hand und nahm sie in die ihre. Ihre Finger waren so leicht wie Federn, als sie seine Haut berührten. Dann schauderte sie und wich zurück.
»Ich bin die Tochter des Königs vom Silberfluß«, sagte sie und schwang ihre Beine vom Bett und saß ihm gegenüber. Sie strich sich das zerzauste Silberhaar zurück. Pe Ell war fasziniert von ihrer Schönheit, doch sie schien sich dessen nicht im geringsten bewußt zu sein. »Ich brauche deine Hilfe«, sagte sie. »Ich bin aus den Gärten meines Vaters gekommen, um einen Talisman zu suchen. Wirst du mit mir reisen und ihn suchen?«
Die Bitte kam so unerwartet, daß Pe Ell zunächst nicht antwortete, sondern das Mädchen nur anstarrte. »Warum wählst du mich aus?« fragte er schließlich verwirrt.
»Weil du etwas Besonderes bist«, gab sie zurück.
Das war genau die richtige Antwort, und Pe Ell war überrascht, daß sie genug wußte, um sie zu geben, daß sie fühlen konnte, was er hören wollte. Dann dachte er an Felsen-Dalls Warnung und wappnete sich. »Was für einen Talisman suchen wir denn?«
Ihr Blick blieb fest auf ihn gerichtet. »Einen magischen, einen mit so viel magischer Kraft, daß er sogar jener der Schattenwesen überlegen ist.«
Pe Ell blinzelte. Quickening war so schön, doch ihre Schönheit war eine Maske, die ihn ablenkte und verwirrte. Er fühlte sich plötzlich all seines Schutzes beraubt, bis in die tiefsten Winkel entblößt. Sie erkannte ihn als das, was er war. Sie sah alles.
In diesem Moment hätte er sie beinahe getötet. Was ihn aufhielt, war, wie wahrhaft verletzlich sie war. Trotz ihrer Magie, die in der Tat außergewöhnlich war, Magie, die einen kahlen, wüsten Hügel in etwas zurückverwandeln konnte, was vermutlich nicht mehr als eine Erinnerung der allerältesten der Zwerge sein konnte. Dennoch fehlte ihr jeglicher Schutz gegen eine Mordwaffe wie den Stiehl. Er spürte, daß es so war. Sie war schutzlos, sollte er beschließen, sie zu töten.
In diesem Wissen entschied er, es nicht zu tun. Noch nicht.
»Schattenwesen«, wiederholte er leise.
»Fürchtest du sie?« fragte sie ihn.
»Nein.«
»Und die Magie?«
Pe Ell atmete langsam ein. Seine hageren Züge zogen sich zusammen, als er sich zu ihr beugte. »Was weißt du von mir?« fragte er, und seine Augen suchten die ihren.
Sie schaute nicht weg. »Ich weiß, daß ich dich brauche. Daß du keine Angst haben wirst, zu tun, was getan werden muß.«
Pe Ell kam es vor, als hätten ihre Worte mehr als nur eine Bedeutung, aber er war seiner Sache nicht sicher.
»Kommst du mit?« fragte sie noch einmal.
Töte sie schnell, hatte Felsen-Dall gesagt. Finde heraus, was sie vorhat, und töte sie. Pe Ell schaute durch das Hüttenfenster in die Nacht hinaus, lauschte auf das Rauschen des nahen Flusses und des Windes, sanft und fern. Er hatte sich nie besonders um den Rat anderer gekümmert. Der war meistens eigennützig und überflüssig für einen Mann, dessen Leben von seiner eigenen Urteilsfähigkeit abhing. Außerdem war an diesem Geschäft einiges mehr, als Felsen-Dall ihm enthüllt hatte. Es gab Geheimnisse, die darauf warteten, aufgedeckt zu werden. Vielleicht war der Talisman, den das Mädchen suchte, etwas, das sogar der Erste Sucher fürchtete. Pe Ell lächelte. Und wenn ihm dieser Talisman in die Hände fiele? Wäre das nicht interessant?
Er schaute sie wieder an. Er konnte sie jederzeit töten.
»Ich werde mit dir gehen«, sagte er.
Sie stand plötzlich auf, streckte die Hände aus, faßte die seinen und zog ihn gleichzeitig hoch. »Da sind noch zwei, die mitkommen müssen, zwei wie du, die gebraucht werden«, sagte sie. »Einer von ihnen ist hier in Culhaven. Ich will, daß du ihn herholst.«
Pe Ell runzelte die Stirn. Er hatte schon beschlossen, sie von jenen Dummköpfen, die da draußen lagerten, diesen fehlgeleiteten Leuten, die an Wunder und an das Schicksal glaubten und die ihm nur in die Quere kamen, zu entfernen. Quickening gehörte ihm ganz allein. Er schüttelte den Kopf. »Nein.«
Sie trat näher, ihre kohlschwarzen Augen waren seltsam ausdruckslos. »Ohne sie können wir nicht erfolgreich sein. Ohne sie ist der Talisman unerreichbar. Sonst brauchen wir niemanden, aber die beiden müssen mitkommen.«
Sie sprach mit solcher Bestimmtheit, daß er außerstande war, ihr zu widersprechen. Sie war offenbar überzeugt, daß das, was sie sagte, stimmte. Vielleicht war es so, dachte er, sie wußte im Augenblick besser als er, was sie vorhatte.
»Nur zwei?« fragte er. »Sonst keiner? Niemand von denen da draußen?«
Sie nickte wortlos.
»Also gut«, willigte er ein. Zwei Männer konnten ihm keine Probleme machen und seine Pläne durchkreuzen. Er konnte das Mädchen noch immer töten, wenn er wollte. »Einer ist hier im Dorf, sagtest du. Wo soll ich ihn suchen?«
Zum ersten Mal, seit sie erwacht war, wandte sie sich ab, so daß er sie nicht sehen konnte.
»Im Föderationsgefängnis«, sagte sie.