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Morgan Leah.
So hieß der Mann, den Pe Ell ausfindig machen und zu der Tochter des Königs vom Silberfluß bringen sollte.
Die Straßen von Culhaven waren leergefegt. Nur ein paar Heimatlose kauerten in den Nischen und Einfahrten der Läden, formlose, zerlumpte Bündel, die die Nacht abwarteten. Pe Ell beachtete sie nicht auf seinem Weg ins Ortszentrum zu den Föderationsgefängnissen. Die Morgendämmerung war noch mindestens zwei Stunden entfernt; er hatte mehr als genug Zeit, das Nötige zu tun. Er hätte diese Befreiungsangelegenheit auf eine andere Nacht verschieben können, doch er sah keinen Grund dafür. Je eher dieser Kerl gefunden wurde, desto schneller waren sie alle unterwegs. Er hatte das Mädchen noch nicht gefragt, wohin sie gehen würden. Das spielte keine Rolle.
Er hielt sich im Schatten, während er sich vorwärtsschlich und dabei über die widersprüchliche Wirkung, die sie auf ihn hatte, nachgrübelte. Er war gleichzeitig erregt und abgestoßen. Sie versuchte, in ihm das Gefühl zu erzeugen, ein Mann zu sein, der dabei ist, sich selbst wiederzuentdecken und sich gleichzeitig wie ein Idiot vorzukommen. Felsen-Dall würde vermutlich für letzteres plädieren und sagen, er spiele das allergefährlichste aller Spiele, er lasse sich an der Nase herumführen und bilde sich dabei ein, das Kommando zu haben. Aber Felsen-Dall hatte kein Herz, keine Seele und keinen Sinn für die Poesie von Leben und Tod. Er scherte sich um nichts und niemanden – nur um die Macht, über die er verfügte oder abzusichern suchte. Er war ein Schattenwesen, und Schattenwesen waren leere Dinger. Wie auch immer Felsen-Dall die Sache sah, Pe Ell glich ihm weit weniger, als der Erste Sucher meinte. Pe Ell wußte um die rauhe Wirklichkeit des Daseins, die praktische Notwendigkeit, am Leben zu bleiben und sich abzusichern; doch er hatte auch einen Sinn für die Schönheiten der Dinge, insbesondere angesichts des Todes. Der Tod besaß große Schönheit. Felsen-Dall sah darin nur Vernichtung. Aber wenn Pe Ell tötete, so tat er es, um erneut die Grazie und die Symmetrie zu entdecken, die den Tod zu dem wunderbarsten Ereignis des Lebens machten.
Er war überzeugt, daß der Tod von Quickening von atemberaubender Schönheit sein würde. Es würde ganz etwas anderes sein als alle Morde, die er je begangen hatte.
Er würde es also nicht übereilen, die unwiderrufliche Tatsache nicht überstürzen. Er würde sich Zeit lassen und es auskosten. Die Gefühle, die sie in ihm auslöste, würden den Handlungsablauf, den er sich vorgenommen hatte, nicht verändern oder gegenteilig beeinflussen. Er verachtete sich nicht dafür, daß er so empfand; das war ein Teil seines Wesens, eine Bestätigung seiner Menschlichkeit. Felsen-Dall und seine Schattenwesen hatten keine Ahnung von solchen Gefühlen; sie waren so gefühlskalt wie Stein. Nicht so Pe Ell. Absolut nicht.
Er schlich an den Arbeitshäusern vorbei und mied die Lichter der Anlage und die Wache haltenden Föderationssoldaten. Der umliegende Wald war still und schlief, eine schwarze Leere, in der Geräusche körperlos und irgendwie furchteinflößend wurden. Pe Ell wurde Teil dieser Leere und fühlte sich wohl in ihrer Hülle, während er sich geräuschlos fortbewegte. Er konnte sehen und hören, was niemand sonst wahrnahm; es war immer so gewesen. Er spürte, was im Dunkeln lebte, selbst wenn es sich vor ihm verbarg. Die Schattenwesen waren so; doch selbst sie konnten sich nicht wie er einpassen.
An einer beleuchteten Kreuzung machte er halt und vergewisserte sich, daß die Luft rein war. Es gab überall Patrouillen.
Er stellte sich Quickening im Schein einer einzelnen Straßenlaterne vor. Ein Kind, eine Frau, ein magisches Wesen – sie war all das und noch viel mehr. Sie war die Verkörperung der allerschönsten Dinge des Landes – eine sonnige Bergschlucht, ein tosender Wasserfall, ein blauer Mittagshimmel, ein Farbenkaleidoskop des Regenbogens, ein endloser Sternenhimmel bei Nacht über einer kahlen Ebene. Sie war ein Geschöpf aus Fleisch und Blut, ein Menschenwesen, und dennoch war sie auch Teil der Erde, aus frisch umgepflügtem Boden, aus Bergströmen, aus großen alten Felsen, die nichts anderem als der Zeit nachgeben. Sie war ihm ein Rätsel, doch er fühlte Dinge in ihr, die widersinnig und gleichzeitig miteinander vereinbar waren. Wie war das möglich? Was war sie, außer dem, was sie zu sein vorgab?
Er bewegte sich schnell durch das Licht und verschmolz wieder mit den Schatten. Er wußte die Antwort nicht, aber er war entschlossen, sie zu finden.
Der eckige, dunkle Kasten der Gefängnisse ragte vor ihm auf. Pe Ell nahm sich einen Augenblick Zeit, seine Alternativen zu überdenken. Er kannte die Anlage der Föderationsgefängnisse von Culhaven; er war ein- oder zweimal drinnen gewesen, auch wenn das außer Felsen-Dall niemand wußte. Sogar im Gefängnis gab es Männer, die umgebracht werden mußten. Aber das war für heute nacht nicht vorgesehen. Zugegeben, er hatte in Betracht gezogen, diesen Mann, den er befreien sollte, diesen Morgan Leah, zu ermorden. Das wäre eine Möglichkeit, das Mädchen daran zu hindern, darauf zu bestehen, daß er sie bei der Suche nach dem Talisman begleitete. Jetzt diesen und später den anderen umlegen, das wäre damit das Ende dieser Angelegenheit. Er könnte lügen darüber, wie es geschehen wäre, doch das Mädchen mochte die Wahrheit ahnen oder erraten. Sie vertraute ihm. Warum sollte er das aufs Spiel setzen? Außerdem hatte sie vielleicht recht, vielleicht wurden diese Männer gebraucht, um den Talisman zu beschaffen. Er wußte noch nicht genug über das, was sie vorhatte. Es war besser abzuwarten.
Er ließ seine schlanke Gestalt in der Steinmauer verschwinden, an der er nachdenklich lehnte. Er konnte das Gefängnis einfach direkt betreten, dem Kommandanten sein Schattenwesen-Abzeichen unter die Nase halten und die Freilassung des Mannes verlangen, ohne daß es irgendein Aufhebens machte. Aber das hieß, daß er sich zeigen mußte, und er zog es vor, das nicht zu tun. Niemand kannte ihn außer Felsen-Dall. Er war der private Mörder des Ersten Suchers. Keiner der anderen Schattenwesen ahnte von seiner Existenz, keiner hatte ihn je zu Gesicht bekommen. Jene, die ihm begegnet waren, Schattenwesen und andere, waren alle tot. Er war für jedermann ein Geheimnis, und er zog es vor, es dabei zu belassen. Es war besser, den Mann in der üblichen Weise herauszuholen, leise, heimlich und allein.
Pe Ell lächelte sein schiefes Lächeln. Den Mann jetzt retten, um ihn später umzubringen. Was für eine verrückte Welt.
Er kam aus der Wand und schlich durch die Finsternis zu den Gefängnissen.
Morgan Leah schlief nicht. Er lag in eine Decke gewickelt in seiner Zelle auf einer Strohpritsche und dachte nach. Er hatte den größten Teil der Nacht wachgelegen, zu rastlos zum Schlafen, von Sorgen und Kummer und einem nagenden Gefühl der Aussichtslosigkeit geplagt, das er nicht verbannen konnte. Die Zelle war erdrückend, kaum dreieinhalb Meter im Quadrat, dafür aber über sechs Meter hoch, mit einer mehrere Zentimeter dicken Eisentür und einem einzigen, vergitterten Fenster so hoch oben, daß er es nicht erreichen konnte, um hinauszuschauen, nicht einmal, wenn er in die Höhe sprang. Die Zelle war nicht gereinigt worden, seit man ihn hineingeworfen hatte, und folglich stank es. Sein Essen wurde ihm zweimal am Tag durch einen Schlitz unten in der Tür zugeschoben. Auf die gleiche Weise bekam er Wasser zum Trinken, doch keines zum Waschen. Er war jetzt seit fast einer Woche eingesperrt, und er hatte niemanden zu Gesicht bekommen. Er kam langsam zu der Überzeugung, daß es auch in Zukunft so bleiben würde.
Das waren düstere Aussichten. Als sie ihn geschnappt hatten, war er sicher gewesen, daß sie es eilig hätten, mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln herauszufinden, warum er sich solche gewaltigen Schwierigkeiten aufgehalst hatte, um die beiden alten Zwergendamen zu befreien. Er hatte einen Föderationsoffizier zusammengeschlagen und vielleicht sogar getötet. Er hatte eine Föderationsuniform gestohlen, um einen Föderationssoldaten zu verkörpern, hatte den Namen eines Föderationsmajors benutzt, um sich Eintritt in die Arbeitshäuser zu verschaffen, hatte den Föderationsoffizier im Dienst getäuscht und hatte die Föderationsarmee im ganzen wie einen Haufen von Tölpeln aussehen lassen. Das alles, um zwei alte Damen zu befreien. Ein ausgetrickstes, mißbrauchtes Föderationskommando mußte doch wissen wollen, warum. Sie mußten ihm doch die Demütigung und den Schaden, die er ihnen zugefügt hatte, heimzahlen wollen. Und doch hatte man ihn allein gelassen.