Er spielte im Geiste die Möglichkeiten durch. Es war unwahrscheinlich, daß er unbegrenzt ignoriert werden, daß er hier in dieser Zelle gehalten werden würde, bis man ihn einfach vergessen hatte. Major Assomal war, wie er erfahren hatte, im Feld. Vielleicht warteten sie auf seine Rückkehr, um mit dem Verhör zu beginnen. Aber wäre Kommandant Soldt geduldig genug, bis dahin zu warten, nach dem, was man ihm angetan hatte? Oder war er tot? Hatte Morgan ihn am Ende getötet? Oder warteten sie auf jemand anderen?
Morgan seufzte. Jemand anderer. Immer wieder kam er zu dem unausweichlichen Schluß. Sie warteten auf Felsen-Dall.
Er wußte, daß es das sein mußte. Teel hatte Elise und Jilt der Föderation, aber insbesondere den Schattenwesen verraten. Felsen-Dall mußte über ihre Verbindung zu Par und Coll Ohmsford und allen, die auf die Suche nach dem Schwert von Shannara gegangen waren, unterrichtet sein. Wenn jemand kam, um sie zu befreien, würde er gewiß davon in Kenntnis gesetzt werden – und würde nachschauen kommen, wen sie da erwischt hatten.
Behutsam drehte Morgan sich auf die andere Seite mit dem Rücken zur Wand und starrte ins Dunkel. Er hatte nicht mehr so starke Schmerzen wie in den ersten Tagen; die Spuren der Schläge begannen zu heilen.
Er hatte Glück, daß er nichts gebrochen hatte – er hatte überhaupt Glück, daß er noch am Leben war.
Oder vielleicht auch kein Glück, korrigierte er seinen Gedanken, je nachdem, wie man es betrachtete. Seine Glücksträhne, so schien es, war abgelaufen. Er dachte einen Moment an Par und Coll und bedauerte, daß er nicht zu ihnen gehen und nach ihnen schauen konnte, wie er es versprochen hatte. Was würde ohne ihn aus den beiden werden? Was war ihnen in seiner Abwesenheit widerfahren? Er fragte sich, ob Damson Rhee sie nach ihrer Flucht aus dem Schlund von Tyrsis versteckt hatte. Er fragte sich, ob Padishar Creel herausgefunden hatte, wo sie waren.
Er stellte sich tausend Fragen, und für keine fand er eine Antwort.
Am meisten fragte er sich, wie lange man ihn am Leben halten würde.
Er rollte sich wieder auf den Rücken und dachte daran, wie anders die Dinge für ihn hätten sein können. In einem anderen Zeitalter wäre er Prinz von Leah gewesen und hätte eines Tages über sein Heimatland regiert. Aber die Föderation hatte vor mehr als zweihundert Jahren der Monarchie ein Ende gesetzt, und heute regierte seine Familie über gar nichts. Er schloß die Augen und versuchte, alle Gedanken an das, was hätte sein können, zu vertreiben, weil er dort keinen Trost fand. Er hatte noch immer Hoffnung, und sein Geist war intakt, trotz all der Widerwärtigkeiten; seine Spannkraft, die ihm durch so vieles geholfen hatte, war noch immer da. Er hatte nicht die Absicht aufzugeben. Es gab immer einen Weg.
Er wünschte nur, er wüßte, welchen.
Er döste ein wenig ein und verlor sich in einem Strom von Einbildungen, die in einer Welle von Gesichtern und Stimmen durcheinander strudelten und ihn mit unzusammenhängenden, falschen Verbindungen narrten, Lügen über Dinge, die es nie gab und nie geben würde.
Er versank in Schlaf.
Dann legte sich eine Hand auf seinen Mund und erstickte seinen Überraschungsschrei. Eine zweite Hand drückte ihn nieder. Er strampelte, doch der Griff, der ihn hielt, war nicht zu brechen.
»Still jetzt«, flüsterte eine Stimme. »Pssst!«
Morgan wurde still. Ein adlergesichtiger Mann in Föderationsuniform beugte sich über ihn und starrte ihm fest in die Augen. Die Hände ließen locker, und der Mann setzte sich zurück. Ein Lächeln zuckte um seine Mundwinkel, und Lachfältchen durchfurchten sein schmales Gesicht.
»Wer bist du?« fragte Morgan leise.
»Jemand, der dich hier rausbringen kann, wenn du klug genug bist, zu tun, was ich dir sage, Morgan Leah.«
»Du kennst meinen Namen?«
Die Lachfältchen vertieften sich. »Gut geraten. Ich bin natürlich ganz zufällig hier reingekommen. Kannst du mir den Ausgang zeigen?«
Morgan starrte ihn an. Es war ein großer, schlaksiger Kerl, der aussah wie ein Mann, der wußte, was er tat. Sein Lächeln schien festgenagelt zu sein und hatte überhaupt nichts Freundliches. Morgan schlug die Decke beiseite und stand auf, wobei ihm auffiel, wie der andere zurückwich und immer den gleichen Abstand zwischen ihnen hielt. Vorsichtig, dachte Morgan, wie eine Katze.
»Gehörst du zu der Bewegung?« fragte er den Mann.
»Ich gehöre zu mir selbst. Zieh das an.«
Er warf Morgan ein Bündel Kleider zu. Als der Hochländer sie auseinanderfaltete, erkannte er eine Föderationsuniform. Der Fremde verschwand für einen Augenblick wieder im Finsteren und tauchte kurz darauf mit einem großen Bündel auf der Schulter wieder auf. Er warf seine Bürde grunzend auf die Pritsche. Morgan fuhr zusammen, als er begriff, daß es eine Leiche war. Der Fremde nahm die Decke und drapierte sie über den Toten, so daß es aussah, als schliefe er.
»Auf diese Weise brauchen sie länger, um zu merken, daß du fort bist«, flüsterte er mit diesem frostigen Lächeln.
Morgan wandte sich ab und zog sich, so schnell er konnte, an. Als er fertig war, winkte ihm der andere Mann ungeduldig, dann schlichen sie zusammen durch die offene Zellentür.
Der Korridor war eng und leer. Lampen beleuchteten ihn nur schwach. Morgan hatte nichts von den Gefängnissen gesehen, als sie ihn hergebracht hatten, denn er war von den Schlägen noch immer bewußtlos gewesen und kannte den Weg nicht. Wachsam folgte er dem Fremden durch den Gang zwischen Mauern aus Steinblöcken an Reihen von Zellentüren wie der seinen vorbei, die alle verschlossen und verriegelt waren. Sie begegneten niemandem.
Als sie die erste Wachstation erreichten, fanden sie auch die leer. Offenbar hatte dort niemand Dienst. Der Fremde eilte in den Korridor dahinter, doch Morgan erhaschte durch eine halbgeöffnete Tür auf einer Seite einen Blick auf glänzende Metallklingen. Er verlangsamte seine Schritte und lugte hinein. Waffengestelle zierten alle Wände des kleinen Raumes. Er dachte plötzlich an das Schwert von Leah und wollte nicht ohne es fortgehen.
»Warte einen Moment!« flüsterte er hinter dem Mann her.
Der Fremde drehte sich um. Eilig drückte Morgan gegen die Tür, die sich nur widerwillig öffnen ließ, weil etwas im Weg lag. Morgan stemmte sich dagegen, bis der Spalt groß genug war. Drinnen lag gegen die Tür gesackt ein weiterer Toter. Morgan schluckte gegen das Gefühl an, das ihn überkam, und durchsuchte die Gestelle nach dem Schwert von Leah.
Er fand es fast sofort. Es steckte noch in seiner Behelfsscheide und hing an einem Nagel hinter einem Ständer mit Speeren. Hastig legte er die Waffe an, nahm sich noch ein Breitschwert und ging wieder hinaus.
Der Fremde wartete. »Keine weiteren Verzögerungen«, sagte er scharf. »Der Wachwechsel ist gleich nach Sonnenaufgang. Es ist schon fast soweit.«
Morgan nickte. Sie folgten einem weiteren Gang, stiegen eine von Holzbalken getragene Hintertreppe hinunter, die quietschte und knarrte, und gelangten in einen Hof. Der Fremde kannte den Weg ganz genau. Es gab keine Wachen, bis sie einen Posten direkt an der Mauer erreichten, und selbst dann wurden sie nicht angerufen. Sie schritten durch die Gefängnistore nach draußen, als der erste schwache Lichtschimmer am Horizont aufzutauchen begann.
Der Fremde führte Morgan ein Stück weit die Straße hinunter und dann durch eine Hintertür in eine Scheune, wo es so finster war, daß der Hochländer sich den Weg ertasten mußte. Sobald sie im Inneren waren, machte der Fremde eine Lampe an. Er wühlte unter einem Stapel leerer Futtersäcke und zog für jeden andere Kleider hervor, die gleiche Waldarbeiterkluft, wie sie die meisten Ostlandarbeiter trugen. Wortlos zogen sie sich um und stopften die abgelegten Föderationsuniformen unter die Säcke.