Der Fremde winkte Morgan hinter sich her, und sie traten hinaus in das erste Licht des neuen Tages.
»Du bist Hochländer, nicht wahr?« fragte der Fremde unvermittelt, während sie ostwärts durch das erwachende Dorf gingen.
Morgan nickte.
»Morgan Leah. Wie das Land. Deine Familie hat einst über die Hochländer regiert, oder?«
»Ja«, erwiderte Morgan. Sein Gefährte war jetzt etwas entspannter, und seine langen Schritte waren locker und ohne Hast, auch wenn seine Augen nicht aufhörten, sich zu bewegen. »Aber die Monarchie existiert schon seit vielen Jahren nicht mehr.«
Sie überquerten eine schmale Brücke über einen abwasserverseuchten Nebenfluß des Silberflusses. Eine alte Frau mit einem Kind auf dem Arm kam an ihnen vorbei. Beide sahen hungrig aus. Morgan schaute sie an. Der Fremde nicht.
»Mein Name ist Pe Ell«, sagte er. Er reichte ihm nicht die Hand.
»Wohin gehen wir?« wollte Morgan von ihm wissen.
Die Mundwinkel des anderen zuckten ein wenig nach oben. »Wirst du schon sehen.« Dann fügte er hinzu: »Zu der Dame, die mich beauftragt hat, dich zu retten.«
Morgan dachte sofort an Elise und Jilt. Aber woher sollten die beiden so jemanden wie Pe Ell kennen? Der Mann hatte schon gesagt, er gehöre nicht der Freiheitsbewegung an; und es war unwahrscheinlich, daß er mit dem Zwergenwiderstand alliiert war. Pe Ell, dachte Morgan, gehörte genau, wie er gesagt hatte, zu sich selbst.
Aber wer war dann die Dame, in deren Auftrag er gekommen war?
Sie folgten den Wegen, die sich zwischen den Zwergenkaten und Hütten am Rande von Culhaven entlangschlängelten, verfallenden Stein- und Brettergebilden, die über den Köpfen ihrer Bewohner verrotteten. Morgan konnte das Rauschen des Silberflusses näher kommen hören. Die Häuser wurden seltener, der Baumbestand dichter, und bald waren kaum noch welche zu sehen. Zwerge schauten mißtrauisch von ihrer Gartenarbeit auf. Falls Pe Ell es bemerkbemerkte, so zeigte er es jedenfalls nicht.
Die Sonne brach in immer breiteren Strahlen durch die Bäume, als sie schließlich ihr Ziel, eine gepflegte kleine Kate, erreichten. Um die herum war ein zerlumpter Haufen, der am Rande des Grundstücks gelagert hatte, dabei, das Frühstück zu beenden und das Schlafzeug zusammenzurollen. Die Männer flüsterten untereinander und schauten Pe Ell dabei fest und lange an. Pe Ell ging wortlos an ihnen vorbei, Morgan hinter ihm. Sie gingen die Stufen zur Eingangstür hinauf und traten ins Haus. Eine Zwergenfamilie saß um einen kleinen Tisch herum und begrüßte sie mit Kopfnicken und kurzem Willkommensgruß. Pe Ell reagierte kaum. Er führte Morgan in den hinteren Teil des Hauses in ein kleines Schlafzimmer und machte sorgfältig die Tür hinter sich zu.
Ein Mädchen saß auf dem Bettrand.
»Danke, Pe Ell«, sagte sie und stand auf.
Morgan Leah starrte sie an. Das Mädchen war umwerfend schön, mit zarten, vollkommenen Zügen und den schwärzesten Augen, die der Hochländer je gesehen hatte. Sie hatte langes, silbriges Haar, das schimmerte wie eingefangenes Licht, und eine Sanftheit, die zum Beschützen einlud. Sie trug einfache Kleider – eine Jacke, Hosen, die mit einem breiten Ledergürtel gehalten wurden, und Stiefel – doch die Kleider konnten auch nicht annähernd die Grazie und Sinnlichkeit ihres Körpers verbergen.
»Morgan Leah«, flüsterte das Mädchen.
Morgan blinzelte, als ihm plötzlich bewußt wurde, daß er sie anstarrte. Er errötete.
»Ich heiße Quickening«, sagte das Mädchen. »Mein Vater ist der König vom Silberfluß. Er hat mich aus seinen Gärten in die Welt der Menschen gesandt, um einen Talisman zu suchen. Ich bitte dich, mir dabei zu helfen.«
Morgan setzte zur Antwort an und hielt inne, weil er nicht wußte, was er sagen sollte. Er warf einen Blick auf Pe Ell, doch die Augen des anderen waren auf das Mädchen gerichtet. Pe Ell war ebenso fasziniert wie er.
Quickening trat zu ihm, und die Röte seines Gesichts und Halses erfaßte heiß seinen ganzen Leib. Sie streckte die Hände aus und legte sie ihm sanft auf beide Seiten des Gesichts. Er hatte noch nie eine solche Berührung gefühlt. Er dachte, er würde alles dafür geben, das noch einmal zu erleben.
»Schließ die Augen, Morgan Leah«, flüsterte sie.
Er stellte keine Fragen, er tat einfach, was sie ihm sagte. Er war augenblicklich voller Frieden. Er konnte Stimmen hören, die sich irgendwo draußen unterhielten, das Rauschen des nahen Flusses, das Wispern des Windes, Vogelgezwitscher und das Kratzen einer Gartenharke. Dann drückten Quickenings Finger ein wenig fester auf seine Haut, und alles verschwand in einem Farbenstrudel.
Morgan Leah schwebte, als würde er von einem Traum davongetragen. Diesige Helligkeit umgab ihn, doch nichts war deutlich zu erkennen. Dann klärte die Helligkeit sich auf, und die Bilder begannen. Er sah, wie Quickening auf einer Straße, die von jubelnden, rufenden Männern, Frauen und Kindern gesäumt war, nach Culhaven gelangte. Er sah, wie sie durch die wachsende Menge von Zwergen, Südländern und Gnomen zu dem kahlen Hügelgelände ging, wo einst die Meadegärten geblüht hatten. Es war, als würde er Teil jener Volksmenge, als stünde er unter jenen, die gekommen waren, um zu sehen, was das Mädchen tun würde. Er empfand selbst ihre Erwartungen und ihre Hoffnung. Dann stieg sie den Hügel hinan, grub ihre Hände in die versengte Erde und ließ ihren wunderbaren Zauber wirken. Vor seinen Augen wandelte sich die Erde, die Meadegärten erstanden aufs neue.
Farben, Düfte und Geschmäcker ihres Wunders füllten die Luft, und Morgan empfand ein Stechen von unendlicher Süße in seiner Brust. Er fing an zu weinen.
Die Bilder verblaßten. Er fand sich wieder in der Kate, fühlte, wie ihre Finger ihn losließen, und rieb sich mit dem Handrücken heftig über die Augen, als er sie aufschlug. Sie schaute ihn an.
»War das Wirklichkeit?« fragte er. Seine Stimme war belegt, trotz seiner Entschlossenheit, sie fest klingen zu lassen. »Ist das tatsächlich geschehen? Es stimmt, nicht wahr?«
»Ja«, erwiderte sie.
»Du hast die Gärten wiedergebracht. Warum?«
Sie lächelte leicht und süß. »Weil die Zwerge etwas brauchen, woran sie wieder glauben können. Weil sie sterben.«
Morgan holte tief Luft. »Kannst du sie retten, Quickening?«
»Nein, Morgan Leah«, antwortete sie zu seiner Enttäuschung. »Das kann ich nicht.« Sie wandte sich einen Moment in den Schatten des Zimmers. »Du wirst es vielleicht eines Tages tun können. Doch im Augenblick mußt du mit mir kommen.«
Der Hochländer zögerte unsicher. »Wohin?«
Sie hob ihr exquisites Gesicht wieder ins Licht. »Nach Norden, Morgan Leah. Nach Darklin Reach. Um Walker Boh zu suchen.«
Pe Ell stand abseits in dem kleinen Schlafzimmer, für den Augenblick vergessen. Ihm gefiel nicht, was er sah. Ihm gefiel die Art und Weise nicht, in der sie den Hochländer berührte, noch die Art und Weise, wie der Hochländer darauf reagierte. Ihn hatte sie nicht so berührt. Es störte ihn auch, daß sie den Namen des Hochländers kannte. Auch den Namen des anderen. Seinen hatte sie nicht gekannt.
Da wandte sie sich an ihn und bezog ihn in die Unterhaltung mit Morgan Leah mit ein, erklärte ihnen beiden, daß sie nach Norden reisen und den dritten Mann suchen müßten. Sobald sie ihn gefunden hätten, würden sie sich auf die Suche nach dem Talisman begeben, den sie zu finden ausgesandt war. Sie sagte ihnen nicht, was der Talisman war, und keiner von ihnen fragte danach. Es lag an der merkwürdigen Wirkung, die sie auf beide hatte, sagte sich Pe Ell, daß sie nichts von dem, was sie ihnen sagte, in Frage stellten. Sie glaubten ihr. Pe Ell hatte das noch nie getan. Aber er wußte instinktiv, daß dieses Mädchen, dieses Kind des Königs vom Silberflusses, dieses Geschöpf wunderbaren Zaubers, nicht log. Er hielt sie für unfähig zu lügen.
»Ich brauche dich«, sagte sie wieder zu dem Hochländer.
Er schaute zu Pe Ell. »Gehst du auch mit?«
Die Art, wie er die Frage stellte, gefiel Pe Ell. In der Stimme des Hochländers klang Besorgnis mit. Vielleicht sogar Angst. Er lächelte geheimnisvoll und nickte. Natürlich, Hochländer, aber nur, um euch beide zu töten, wenn ich Lust dazu habe, dachte er.