Doch im Gegensatz zu meinem Vater vernachlässigte Uhl Belk den Auftrag, den das Wort ihm gegeben hatte. Im Kampf um sein Überleben verlor er den eigentlichen Sinn seines Daseins aus den Augen; er gelangte zu der Überzeugung, daß allein die Existenz, koste es, was es wolle, bedeutsam sei. Sein Auftrag, das Land zu erhalten und zu beschützen, war vergessen, sein Versprechen, sich für das Leben des Landes einzusetzen, hatte keine Bedeutung mehr. Er hegte und pflegte seine Magie mit einem einzigen Gedanken im Kopf – daß er dafür sorgen würde, so stark zu werden, daß seine Existenz niemals wieder von irgend etwas oder irgendwem bedroht würde.«
Quickening senkte den Blick, und als sie wieder aufschaute, waren ihre Augen voller Staunen. »Uhl Belk ist der Herrscher von Eldwist, einem Landstreifen weit im Nordosten jenseits des Charnalgebirges, wo das Ostland am Gezeitenstrom-Ozean endet. Nachdem er sich jahrhundertelang versteckt gehalten hat, kommt er nun hervor und fordert die Welt der Menschen für sich. Er tut dies mit seiner Magie, deren Kraft weiter zunimmt, sobald er sie benutzt. Er setzt sie wahllos gegen das Land ein – den Boden, das Wasser, die Bäume, die Geschöpfe, die ihre Nahrung daraus beziehen. Er verwandelt alles zu Stein und bezieht daraus Magie, die ihn noch stärker macht. Das gesamte Eldwist ist Stein, und das Land rundum fängt ebenfalls an zu versteinern. Der Gezeitenstrom hält ihn zur Zeit in Schach, denn er ist gewaltig, und selbst Uhl Belks Magie reicht noch nicht aus, einen Ozean zu überwältigen. Doch Eldwist ist an seiner Spitze mit dem Ostland verbunden, und nichts verhindert die Ausbreitung des Gifts nach Süden. Außer meinem Vater.«
»Und den Schattenwesen«, fügte Morgan Leah hinzu.
»Nein, Morgan«, sagte sie, und es entging keinem von ihnen, daß sie ihn allein beim Vornamen nannte. »Die Schattenwesen sind nicht Uhl Belks Feinde. Allein mein Vater versucht, die Vier Länder zu erhalten. Die Schattenwesen wie der Steinkönig würden die Länder gern umgestaltet sehen, so daß sie nicht wiederzuerkennen wären – öde und jeglichen Lebens beraubt. Die Schattenwesen und Uhl Belk lassen einander in Ruhe, denn sie haben nichts voneinander zu befürchten. Das kann sich eines Tages ändern, aber dann wird es für keinen von uns mehr eine Rolle spielen.«
Sie sah Walker an. »Denk an deinen Arm, Walker Boh. Das Gift, das ihn dir genommen hat, stammt von Uhl Belk. Der Asphinx gehört zu ihm. Alles Lebendige, das vom Steinkönig oder einem seiner Geschöpfe berührt wird, wird wie dein Arm – hart und leblos. Das ist die Quelle von Uhl Belks Macht, diese Beständigkeit, diese Unwandelbarkeit.«
»Und warum wollte er mich vergiften?« fragte Walker.
Ein Sonnenstrahl traf ihr Silberhaar und ließ es hell aufleuchten. Sie schüttelte die Sonne ab. »Er stahl einen Druidentalisman aus der Halle der Könige, und er wollte sichergehen, daß, wer auch immer den Diebstahl bemerkte, sterben müsse, ehe er etwas unternehmen konnte. Du hattest einfach das Pech, derjenige zu sein. Als die Druiden noch lebten, waren sie stark genug, Uhl Belk die Stirn zu bieten. Er wartete, bis sie alle fort waren, um erst dann wieder hervorzukommen. Sein einziger Feind ist jetzt mein Vater.«
Ihre dunklen Augen schwenkten auf Pe Ell. »Uhl Belk möchte das Land aufzehren, und um das tun zu können, muß er meinen Vater vernichten. Mein Vater hat mich ausgesandt, das zu verhindern. Ich kann es ohne eure Hilfe nicht tun. Ihr müßt mit mir nach Norden nach Eldwist kommen. Sobald wir dort sind, müssen wir den Talisman, den der Steinkönig den Druiden aus der Halle der Könige gestohlen hat, finden und zurückholen. Dieser Talisman wird der schwarze Elfenstein genannt. Solange Uhl Belk im Besitz des Elfensteins ist, ist er unbesiegbar. Wir müssen ihn ihm wegnehmen.«
Pe Ells langes, schmales Gesicht zeigte keinerlei Ausdruck. »Und wie sollen wir das anfangen?« fragte er.
»Ihr werdet einen Weg finden«, sagte das Mädchen und schaute einen nach dem anderen an. »Mein Vater sagte, das würdet ihr, ihr wäret im Besitz der nötigen Mittel. Aber ihr werdet alle drei gebraucht, um es zu tun. Jeder von euch besitzt die Magie, die erforderlich ist; wir haben nicht darüber gesprochen, doch es ist so. Alle drei Magien sind vonnöten. Ihr müßt alle drei mitkommen.«
»Alle drei.« Pe Ell sah zweifelnd auf Walker und Morgan. »Und was kann der schwarze Elfenstein? Was für eine Art von Magie hat er?«
Walker lehnte sich vor, um ihre Antwort zu hören, und Quickenings Augen richteten sich auf ihn. »Er nimmt die Kraft anderer Magien fort. Er verschlingt sie und macht sie sich zu eigen.«
Verblüfftes Schweigen breitete sich aus. Walker hatte noch nie von einer solchen Magie gehört. Er dachte an die Worte in der Druidengeschichte, die Cogline ihm gebracht hatte, die Worte, die beschrieben, wie Paranor wiederhergestellt werden konnte:
Einmal fortgeschafft, soll Paranor für die Welt der Menschen für alle Zeit verloren sein, versiegelt und uneinnehmbar unter dem Bann. Ein einziger Zauber besitzt die Macht, es zurückzuholen – dieser einzigartige Elfenstein von schwarzer Farbe, der von dem Feenvolk der Alten Welt in der Art und Weise aller Elfensteine erstellt wurde, und der dennoch in einem einzigen Stein allein die nötigen Eigenschaften von Herz, Verstand und Körper in sich vereint. Wer auch immer den Grund und das Recht dazu hat, soll ihn zu seinem wahren, vorbestimmten Zweck verwenden.
Er hatte sich den Wortlaut eingeprägt, bevor er das Buch in einer Nische über dem Kamin der Hütte versteckte und zur Halle der Könige aufbrach. Der Text erläuterte etwas darüber, wie der schwarze Elfenstein verwendet werden konnte, um Paranor wiedererstehen zu lassen. Wenn Druidenmagie es versiegelt hatte, würde der schwarze Elfenstein diese Magie zunichte machen und die Feste wiederherstellen. Walker runzelte die Stirn. Das erschien verdammt einfach. Schlimmer noch, die Kraft einer solchen Magie ließ vermuten, daß nichts sie schlagen konnte, wenn sie einmal zum Einsatz käme. Warum würden die Druiden das Risiko eingehen, daß etwas so Mächtiges in die Hände eines Feindes von der An von Uhl Belk fiele?
Andererseits hatten sie vermutlich alles getan, um ihn zu schützen. So gut wie niemand konnte ihn aus der Halle der Könige entfernen. Oder überhaupt wissen, daß er sich dort befand. Woher wußte es dann also der Steinkönig, fragte er sich.
»Wenn der schwarze Elfenstein andere Magie fortnehmen kann«, unterbrach Pe Ell plötzlich Walkers Gedanken, »wie kann irgend etwas ihn überwinden? Unsere eigene Magie, irgendeine Magie, ist doch dann machtlos dagegen.«
»Vor allem meine, denn ich besitze keine«, ließ Morgan sich plötzlich vernehmen, und alle schauten ihn an. »Jedenfalls keine, die der Rede wert wäre.«
»Kannst du uns irgendwie gegen den Steinkönig helfen?« fragte Walker. »Kannst du deine Magie in irgendeiner Form einsetzen?«
»Nein«, erwiderte das Mädchen, und sie starrten sie schweigend an. »Meine Magie ist nutzlos, bis ihr den schwarzen Elfenstein von Uhl Belk zurückgewonnen habt. Auch darf er nicht herausfinden, wer ich bin. Wenn er das täte, würde er mir ein schnelles Ende bereiten. Ich werde mit euch kommen und euch beraten, wenn ich kann. Ich werde helfen, falls das möglich ist. Aber ich darf meine Magie nicht einsetzen – nicht das mindeste bißchen, nicht für den kürzesten Augenblick.«
»Aber du meinst, wir könnten das?« fragte Pe Ell ungläubig.
»Der Steinkönig wird eure Magie für unbedeutend halten. Er wird sich von euch nicht bedroht fühlen.«
Pe Ell machte ein so finsteres Gesicht, daß Walker für einen Augenblick von seiner Frage, was Quickening ihnen vorenthielt, abgelenkt wurde. Er war jetzt sicher, daß sie ihnen etwas verschwieg. Nicht, daß sie sie anlog, das glaubte er nicht. Aber da war eindeutig etwas, das sie ihnen nicht sagte. Das Problem war, daß er nicht die geringste Ahnung hatte, was das sein könnte.