Sie standen in einem Bretterverschlag. Eine Tür führte nach draußen. Damson öffnete sie vorsichtig und trat mit Par im Gefolge hinaus.
Um sie herum erhob sich die Stadt Tyrsis. Festungsmauern, spiralige Türme, zusammengewürfelte Gebäude aus Stein und Holz. Die Luft war geschwängert von Gerüchen und Geräuschen. Es war früher Abend, und die Stadtbewohner befanden sich auf dem Heimweg. Das Leben war langsam und träge in der windstillen Sommerhitze. Über ihnen wandelte sich der Himmel in schwarzen Samt, und Sterne übersäten ihn wie verstreute Kristallsplitter. Ein wundervoll heller Vollmond strahlte kaltes Licht über die Welt.
Par Ohmsford lächelte. Die Schmerzen waren vergessen, die Ängste für den Augenblick zurückgelassen. Er rückte das Gewicht des Schwertes von Shannara auf seiner Schulter zurecht. Es war gut, am Leben zu sein.
Damson nahm seine Hand und drückte sie sanft.
Zusammen bogen sie in eine Straße ein und verschwanden in der Nacht.
12
Quickening blieb mit ihrer kleinen Gruppe mehrere Tage in Hearthstone, damit Walker Boh wieder zu Kräften kommen konnte. Er erholte sich schnell. Der Heilungsprozeß wurde gleichermaßen von den kleinen Berührungen und dem häufigen Lächeln des Mädchens, von ihrer bloßen Gegenwart, wie von der Hand der Natur beschleunigt. Magie war überall um sie herum, eine unsichtbare Aura umgab sie, die alles berührte, mit dem sie in Kontakt kam, und die alles mit einer Geschwindigkeit und einer Gründlichkeit erneuerte und wiederherstellte, die einfach verblüffend waren. Walker wurde fast über Nacht wieder kräftig, die Wirkung des Giftes gehörte der Erinnerung an, und bis zu einem gewissen Grade gesellte sich der Schmerz über den Verlust von Cogline und Ondit dazu. Die Besessenheit schwand aus seinem Blick, und er war in der Lage, seine Wut und seine Angst in einer kleinen, dunklen Ecke seines Bewußtseins einzusperren, wo sie ihn nicht behelligen würden und doch nicht in Vergessenheit gerieten, wenn die Zeit gekommen wäre, sich daran zu erinnern. Seine Entschlossenheit kehrte zurück, sein Selbstvertrauen, sein Zielbewußtsein und seine Entschiedenheit, und er glich eher wieder dem Dunklen Onkel alter Zeiten. Seine eigene Magie half ihm bei seiner Genesung, doch es war Quickening, die mit einer Wärme, die die Sonne in den Schatten stellte, in jedem Augenblick den Anstoß dazu gab.
Sie tat noch mehr. Die Lichtung, auf der die Hütte gestanden hatte, wurde von ihren Wunden und Brandspuren gereinigt, und die Zeugnisse des Kampfes mit den Schattenwesen schwanden langsam. Gras und Blumen erblühten und füllten die Öde, Farbkleckse und duftende Polster trösteten und taten wohl. Sogar die Ruinen der Hütte wandelten sich zu Staub und schwanden schließlich ganz. Es war, als ob sie, wenn immer sie wollte, die Welt erneuern könnte.
Morgan Leah begann sich mit Walker zu unterhalten, wenn Pe Ell nicht in der Nähe war. Der Hochländer fühlte sich nach wie vor nicht wohl und gestand Walker, daß er nicht sicher sei, wer der andere wirklich war und warum Quickening ihn mitgebracht hatte. Morgan war erwachsen geworden, seit Walker ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Dreist und selbstgefällig war er gewesen, als er zum ersten Mal nach Hearthstone gekommen war. Jetzt erschien er ihm wie ein gebändigter, kontrollierter, achtsamer Mann, dem es jedoch nicht an Mut fehlte, ein richtiger Mann. Walker mochte ihn lieber so, und er glaubte, daß die Ereignisse, die ihn von den Ohmsfords getrennt und nach Culhaven gebracht hatten, viel zu seiner Reifung beigetragen hatten. Der Hochländer hatte ihm berichtet, was Par und Coll widerfahren war, wie sie sich Padishar Creel und der Bewegung angeschlossen hatten, von ihrer Reise nach Tyrsis und dem Versuch, das Schwert von Shannara aus der Grube zu holen, ihren Kämpfen mit den Schattenwesen, ihrer Trennung und ihrem getrennten Entkommen. Er berichtete Walker von dem Überfall der Föderation auf den Jut, von Teels Verrat, ihrem Tod und der Flucht von Steff und dem Geächteten nach Norden.
»Sie hat uns alle verraten, Walker«, erklärte Morgan zum Schluß seines Berichts. »Sie verpetzte Elise und Jilt in Culhaven, die Zwerge, die mit dem Widerstand zusammenarbeiten, von denen sie wußte, einfach jeden. Sie muß auch Cogline angezeigt haben.«
Doch Walker glaubte das nicht. Die Schattenwesen hatten über Cogline und Hearthstone Bescheid gewußt, seit Par vor ein paar Monaten von Spinnengnomen gekidnappt worden war. Die Schattenwesen hätten jederzeit kommen können, um Cogline zu holen, und sie hatten sich erst jetzt dazu entschlossen. Felsen-Dall hatte, bevor er Cogline tötete, gesagt, daß der alte Mann der letzte sei, der sich den Schattenwesen in den Weg stellte, und das hieß, daß er Cogline für eine Bedrohung hielt. Wie Felsen-Dall sie gefunden hatte, bereitete ihm weniger Sorgen als die Behauptung des Ersten Suchers, daß die Shannara-Kinder alle tot seien. Was Walker anging irrte er sich offenkundig, aber wie stand es um Par und Wren, die anderen, die von Allanons Schatten auf die Suche nach den verlorenen, verschwundenen Gegenständen geschickt worden waren, die angeblich die Vier Länder retten würden? Irrte Felsen-Dall sich auch in ihrem Fall, oder hatten sie das gleiche Schicksal erlitten wie Cogline? Er hatte keine Möglichkeit, die Wahrheit herauszufinden, und er behielt seine Gedanken für sich. Es gab keinerlei Veranlassung, Morgan Leah etwas zu sagen, der ohnehin schon mit den eingebildeten Konsequenzen seiner Entscheidung, Quickening zu folgen, zu schaffen hatte.
»Ich weiß, daß ich nicht hier sein dürfte«, vertraute er Walker eines Nachmittags an. Sie saßen im Schatten einer alten Eiche, lauschten auf die Singvögel und schauten ihnen zu, wie sie über ihnen herumflitzten. »Ich habe mein Steff gegebenes Versprechen gehalten und für die Sicherheit von Elise und Jilt gesorgt. Aber jetzt! Wie steht es mit meinem Versprechen an Coll und Par, daß ich sie beschützen würde? Ich dürfte nicht hier sein. Ich mußte nach Tyrsis zurückgehen und sie suchen.«
Doch Walker erwiderte: »Nein, Hochländer, das müßtest du nicht. Was könntest du denn tun, selbst wenn du sie fändest? Was könntest du denn gegen die Schattenwesen ausrichten? Hier hast du die Gelegenheit, etwas weit Wichtigeres zu tun – etwas Notwendiges, wenn Quickening recht hat. Und vielleicht findest du auch Mittel und Wege, die Magie deines Schwertes wiederherzustellen, so wie ich vielleicht Mittel und Wege finden werde, meinen Arm wiederherzustellen. Geringe Hoffnungen für unsereinen mit pragmatischem Geist, aber dennoch Hoffnungen. Wir fühlen ihr Bedürfnis, Hochländer, und wir reagieren darauf; wir sind ihre Kinder, nicht wahr? Ich glaube, wir können solche Gefühle nicht so einfach abtun. Jedenfalls gehören wir im Augenblick an ihre Seite.«
Zu dieser Überzeugung war er gelangt, seit er Quickening in dem mitternächtlichen Gespräch von der Vision des Finsterweihers und seiner Furcht, daß sie sich bewahrheiten könne, berichtet hatte. Ihre beharrliche Bestimmtheit, daß dies nicht der Fall sein würde, hatte ihn umgestimmt. Morgan Leah war nicht weniger durch und durch gefesselt, von ihrer Schönheit hypnotisiert, durch sein Sehnen angekettet, in einer Weise zu ihr hingezogen, die er nicht im mindesten verstehen und dennoch nicht ableugnen konnte. Für jeden der drei war Quickenings Anziehungskraft anders. Bei Morgan war es physisch, er war fasziniert von ihrem Aussehen und ihren Bewegungen, von der Vollkommenheit ihres Gesichts und ihres Körpers, der Lieblichkeit, die alles übertraf, das er je gekannt oder auch nur geahnt hatte. Bei Walker war es vergeistigter, ein Gefühl der Verwandtschaft, das dem gemeinsamen Erbe der Magie entsprang, ein Verständnis ihrer Denk- und Handlungsweise, die darauf beruhte, ein Band, das sie wie eine gemeinsame Kette aneinander fesselte, wobei jedes Kettenglied die geteilte Erfahrung des Denkens darstellte, die aus dem Zauber der Magie erwuchs.
Pe Ells Absichten waren am schwierigsten zu bestimmen. Er bezeichnete sich selbst als Künstler in Taschenspielerei und im Entkommen, doch er war eindeutig mehr als das; daß er extrem gefährlich war, war für keinen ein Geheimnis, doch er hielt jegliches Wissen über sich selbst sorgfältig verborgen. Er sprach nur selten mit einem von ihnen, einschließlich sogar Quickening, obgleich er ebenso zu ihr hingezogen war wie Walker oder Morgan und sich ebenso aufmerksam um sie kümmerte wie sie. Aber Pe Ell war eher zu ihr hingezogen, wie man sich zu seinen Besitztümern hingezogen fühlt, als zu einer Geliebten oder einer verwandten Seele. Er verhielt sich Quickening gegenüber, wie ein Handwerker zu etwas steht, das er geschaffen hat und als Zeichen seiner Fähigkeiten vorzeigt. Walker hatte Schwierigkeiten, seine Attitüde zu verstehen, denn Pe Ell war in der gleichen Weise wie die beiden anderen mitgenommen worden und hatte nichts zu dem beigetragen, wer oder was Quickening war. Doch das Gefühl, daß Pe Ell das Mädchen als sein Eigentum betrachtete und daß er, wenn die Zeit gekommen wäre, versuchen würde, sie zu besitzen, blieb bestehen.