»Was willst du wissen, Pe Ell?« fragte das Mädchen ruhig und gelassen.
»Du hast uns über das, was uns bevorsteht, nicht genug gesagt«, erwiderte er. »Ich meine, das solltest du. Jetzt.«
Sie schüttelte den Kopf. »Du erwartest Antworten, die ich nicht zu geben vermag. Ich muß sie ebenfalls herausfinden.«
»Das glaube ich dir nicht.« Er schüttelte unterstreichend den Kopf. Seine Stimme war leise und hart. Morgan Leah schaute ihn mit unverhohlener Gereiztheit an, und Walker Boh sprang auf die Füße. »Ich weiß etwas von Leuten, sogar solchen, die über Magie verfügen wie du, und ich kann erkennen, wenn sie mir alles sagen, was sie wissen, und wenn sie etwas verbergen. Das tust du. Du solltest es lieber nicht tun.«
»Sonst machst du kehrt und gehst zurück?« forderte Morgan ihn scharf heraus.
Pe Ell sah ihn ausdruckslos an.
»Warum tust du das nicht, Pe Ell? Sag doch, warum nicht?«
Pe Ell erhob sich. Sein Blick war scheinbar desinteressiert und leer. Morgan stand gleichzeitig auf. Aber Quickening trat schnell zwischen die beiden, trennte sie voneinander, so, als sei das ganz zufällig, als wolle sie nur Pe Ell genau anschauen. Sie stand klein und verwundbar vor ihm, ihr Silberhaar fiel nach hinten, als sie das Gesicht hob, um ihn anzuschauen. Er runzelte die Stirn und sah einen Augenblick lang aus, als fühle er sich von ihr bedroht und könnte zuschlagen. Gertenschlank und nervig wich er schlangengleich zurück. Aber sie rührte sich nicht, weder auf ihn zu noch von ihm weg, und langsam lockerte sich seine Anspannung.
»Du mußt mir trauen«, ermahnte sie ihn leise, sprach zu ihm, als sei er der einzige andere lebende Mensch in der Welt, hielt ihn mit ihrer Stimme, der Intensität ihrer schwarzen Augen, der Nähe ihres Leibes in Bann. »Was man über Uhl Belk und Eldwist wissen muß, habe ich dir gesagt. Was man über den schwarzen Elfenstein wissen muß, habe ich dir gesagt. Jedenfalls wenigstens alles, was ich selber weiß. Ja, es gibt Dinge, die ich euch vorenthalte, so wie du mir Dinge vorenthältst. Das ist so unter lebendigen Geschöpfen, Pe Ell. Du kannst mir meine Geheimnisse nicht verübeln, solange du deine eigenen für dich behältst. Ich verberge nichts vor dir, das dir schaden könnte. Das ist alles, was ich tun kann.«
Der schlanke Mann starrte wortlos auf sie hinunter, alles blieb hinter seinen Augen verschlossen, wo seine Gedanken heftig arbeiteten.
»Wenn wir nach Rampling Steep kommen, werden wir Hilfe suchen, um den Weg zu finden«, fuhr sie fort. Ihre Stimme war nach wie vor kaum mehr als ein Flüstern, doch glockenklar und bestimmt. »Eldwist wird bekannt sein und jemand wird uns den Weg zeigen.«
Und zu der großen Überraschung sowohl von Walker und Morgan Leah nickte Pe Ell nur und ging fort. In jener Nacht sprach er mit keinem von ihnen mehr. Es war, als habe er vergessen, daß sie existierten.
Am nächsten Tag gelangten sie zu einer breiten Straße, die nach Westen ins Vorgebirge führte, und sie bogen darauf ein. Die Straße wand sich schlangengleich ins Licht und dann in den Schatten, als die Sonne hinter dem Charnalgebirge versank. Die Nacht brach herein, und sie kampierten unter den Sternen, dem ersten klaren Himmel seit Tagen. Beim Abendessen sprachen sie ruhig miteinander, ein gewisses Gleichgewicht war mit dem Aufhören des Regens wiederhergestellt. Die Ereignisse des Vorabends wurden mit keinem Wort erwähnt. Pe Ell schien mit dem, was Quickening ihm gesagt hatte, zufrieden zu sein, obwohl sie ihm so gut wie gar nichts gesagt hatte. Es lag an der Art, wie sie mit ihm gesprochen hatte, dachte Walker. Es lag an der Art, wie sie ihre Magie einsetzte, um Mißtrauen und Ärger abzuwenden.
Früh am nächsten Morgen brachen sie wieder auf. Die Sonne schien hell und warm. Am späten Nachmittag waren sie hoch hinauf ins Vorgebirge gestiegen, nahe an den Fuß des Gebirges. Bei Sonnenuntergang erreichten sie die Stadt Rampling Steep.
Bis dahin war es schon fast dunkel, nur ein schwacher Schimmer hinter den Bergen im Westen färbte den Horizont in goldenen und silbernen Schattierungen. Rampling Steep kauerte in einem tiefen, schattigen Loch, einer flachen Senke am Fuß der Gipfel, wo die Waldbäume sich verdünnten und als isolierte Gruppen zwischen den Klippen der Gebirgsfelsen verstreut standen. Die Gebäude der Stadt waren ein kümmerlicher Haufen, baufällige Konstruktionen aus Steinfundamenten und hölzernen Wänden und Dächern, Fenster und Türen mit Läden verschlossen wie die Augen verängstigter Kinder. Eine einzige Straße schlängelte sich zwischen ihnen entlang, als suche sie nach einem Ausweg. Die Häuser kauerten sich zu beiden Seiten, nur eine Handvoll Scheunen und Katen standen etwas höher oben wie achtlose Wachposten. Alles brauchte dringend Reparaturen. Bretter der Wände waren zerbrochen oder hingen lose, Dachschindeln waren heruntergerutscht, Vordächer standen schief. Licht schimmerte durch Spalten und Schlitze. Pferdegespanne standen nah vor den Häusern, jedes sah noch elender aus als das vorangegangene, und dunkle Gestalten auf zwei Beinen huschten zwischen ihnen herum wie Geister.
Im Näherkommen erkannte Walker, daß die Gestalten vor allem Trolle waren, große, ungeschlachte Figuren im Zwielicht, in deren borkigen Gesichtern nichts zu lesen stand. Einige schauten auf, als die vier die Straße entlangkamen, doch keiner sprach sie an oder schaute ein zweites Mal hin. Stimmengewirr drang zu ihnen, Grunzen und Gemurmel und Gelächter, das die verfallenen Wände nicht aufhalten konnten. Doch trotz der Gespräche und des Gelächters und der Leute vermittelte Rampling Steep einen leeren Eindruck, so als sei es seit geraumer Zeit von den Lebenden verlassen worden.
Quickening führte sie die Straße hinunter, ohne stehenzubleiben, ihrer Sache so sicher, wie sie es von Anfang an gewesen war. Morgan folgte einen Schritt hinter ihr, blieb in der Nähe, blieb wachsam und beschützend, auch wenn es wahrscheinlich nicht nötig gewesen wäre. Pe Ell war nach rechts ausgewichen und hielt Abstand, Walker folgte.
Im Zentrum von Rampling Steep gab es eine Reihe von Kneipen, und es sah so aus, als habe sich die gesamte Bevölkerung dort versammelt. Aus manchen klang Musik, und Männer torkelten und schwankten in gesichtsloser Anonymität durch die Türen ein und aus. Auch ein paar Frauen kamen vorbei, sie sahen hart und abgearbeitet aus. Rampling Steep schien eher eine Endstation zu sein als ein Anfang.
Quickening führte sie in die erste der Kneipen und fragte den Inhaber, ob er jemanden kenne, der sie durch das Gebirge nach Eldwist führen könne. Sie stellte die Frage, als sei es das Natürlichste auf der Welt. Sie bemerkte die Erregung nicht, die ihre Gegenwart auslöste, die Blicke, die von überall auf sie gerichtet waren, die Gier, die in vielen der auf sie fixierten Augenpaare stand, oder sie schien sie jedenfalls nicht zu bemerken. Vielleicht, dachte Walker, als er sie beobachtete, hat es einfach keine Bedeutung für sie. Er sah, daß sich keiner näherte und niemand bedrohlich wurde. Morgan stand beschützend hinter ihr, das Gesicht der unfreundlichen, geilen Gesellschaft zugewandt – als ob er etwas ausrichten könnte, falls die Meute etwas zu unternehmen beschloß – doch es war nicht der Hochländer, der sie davon abhielt, auch nicht Walker und nicht einmal der abweisende Pe Ell. Es war das Mädchen, diese verblüffende Erscheinung, die wie ein Produkt wilder Phantasie nicht gestört werden durfte, aus Angst, sie würde sich als Einbildung herausstellen. Die in dem Bierhaus versammelten Männer musterten sie; diese Meute von Männern mit wildem Blick konnte es nicht ganz glauben und war auch nicht willens, sich einen Irrtum eingestehen zu müssen.
In der ersten Kneipe konnten sie nichts erfahren, so zogen sie in die nächste. Niemand folgte ihnen. Das Schauspiel der ersten wiederholte sich in dieser, die kleiner und enger war, die Luft geschwängert mit Pfeifenrauch und dem Geruch von Leibern. Trolle, Gnome, Zwerge und Menschen bewohnten Rampling Steep. Alle sprachen und tranken miteinander, als sei es die natürliche Ordnung der Dinge, als habe das, was im Rest der Vier Länder geschah, hier keine Gültigkeit. Walker studierte leidenschaftslos ihre Gesichter, und wenn ihre Gesichter ihm nichts mitteilten, ihre Augen, und er fand sie verschlossen und furchtsam, die Gesichter und die Augen von Leuten, die mit Mühsal und Enttäuschung lebten, dies jedoch ignorierten, weil sie sonst nicht würden überleben können. Manche wirkten gefährlich, ein paar sogar verzweifelt. Doch das Leben in Rampling Steep gehorchte einer Ordnung, wie das fast überall der Fall ist, und es geschah nicht viel, das diese Ordnung störte. Fremde kamen und gingen, sogar solche, die so umwerfend waren wie Quickening, und das Leben ging trotzdem weiter. Quickening war so etwas wie eine Sternschnuppe – es gab sie hin und wieder, und wenn man Glück hatte, sah man sie, aber man unternahm deswegen nichts, um sein Leben zu verändern.